Die Tyrannei des Disko-Beats

■ Perwoll-Pop und Softie-Soul: Jimmy Somerville fühlte sich wohl in seiner Rolle als Gay-Idol und coverte sich im SO 36 fröhlich selbst

Die Bühne ist herrlich mit lila Lametta behängt, kunterbunt angestrahlt, erinnert das an Flitter und Tand im abgetakelten Vorstadtvarieté. Unter der Decke hängen Fußbälle in Netzen, an die Wände sind Dias projiziert mit Medikamenten, die zur Therapie von Aids genutzt werden – die Deko ist auf das Artwork des neuen Albums von Jimmy Somerville abgestimmt, „Manage the Damage“, das im Herbst erscheinen wird und provozieren soll: mit der Homoerotisierung der haarigen Knallwade des Fußballers. Das SO 36 ist höchstens drei viertel voll, viele Oberkörper in knappen Unterhemdchen tummeln sich da. Das gibt dem Laden Alltäglichkeit, wie beim Heimspiel eines Oft- und Vielgeliebten.

Als der kleine drahtige Jimmy Somerville endlich auf die Bühne turnt, ist das Geschrei dann doch so groß, als wäre der Club ausverkauft. Mit maskulin dunkler Stimme sagt er seinen ersten Song an: Den Evergreen „Why?“ aus dem Jahr 1984, berühmt geworden mit seiner ersten Band, Bronski Beat. Jimmy Somerville covert sich an diesem Abend fast ausschließlich selbst, fünzehn Jahre alte Hits über die Nöte der Schwulen in England unter Thatcher, als Gesetze verboten, dass sich Jungs auf der Straße küssen, über schwule Liebe, Freundschaft, Herzschmerz. Songs wie „Never Can Say Goodbye“ und „Don't Leave Me This Way“ mit den Communards, mit denen er sozial engagiert über Armut, Arbeitslosigkeit und Aids textete und für Leute auftrat, „die an ihrem Alltag verzweifelten“. Die schwule Gemeinde hat sich auf Nostalgie und Retro verbockt. Bei den wenigen Songs vom im Herbst erscheinenden Album, darunter auch der aktuellen Single-Auskopplung „Something to live for“, jubelt es nicht halb so hemmungslos. Es ist wie Karaoke.

Mit seinem Markenzeichen, der vertraut durchdringenden Kopfstimme, singt er die Songs, als sei er zu seinem eigenen Klischee geronnen. Doch immer ist der Kitsch, die imaginäre Welt des glitzernden Luxus, der großen Gefühle, Exzentrizität und Eleganz, auch ironisch gebrochen. Denn selbst der schwule Popstar weiß, dass die Welt schöner sein sollte. Somerville fühlt sich wohl in seiner Rolle als Gay-Idol, als bester Freund und Begleiter der Community. „How many couples do we have in the audience tonight?“, ruft er mit seinem schottischen Akzent reißerisch zwischen zwei Songs und spielt dann „To Love Somebody“, „nur für euch“. Er unterwirft sich lustvoll tanzend unter die Tyrannei des Beats, er ist der „slave to the rhythm“, der Diener seiner eigenen Musik: Eins, zwei, Disko, Disko. Den ganzen Abend über bleibt der monoton stampfende Dancefloor Playback, Somerville mit seinem mal melancholisch verträumten, mal zuckersüßen Perwoll-Pop- und Softie-Soul-Gesang ist nur flankiert von zwei schwarzen Background-Sängern, denen er liebevoll nach jedem Song den Schweiß von der Strin tupft. Als ein Fan ihm sein verschwitztes Hemd auf die Bühne wirft, sagt er kokett frotzelnd: „This is not a sex club. What would your mother say?“, und beginnt ein Palaver mit ihm.

Am Ende des Konzerts kommen die Spieler des Berliner SV Vorspiel in sexy Trikots auf die Bühne. Links und rechts wackeln echte Krawalltunten mit den Hüften: die eine mit Simpsons-T-Shirt, die andere mit einem aufgemalten Tor auf dem Röckchen aus Kunstrasen. Beim Abschiedslied, einer abgespeckten Version von „Smalltown Boy“ über den Jungen, der auf der Suche nach Toleranz sein Zuhause verlassen muss, setzen sich alle einträchtig nebeneinander und machen ganz verheulte Gesichter.

Susanne Messmer