: Oh nein, die Kamera!
In Ron Howards „EDtv“ erfährt ein Großmaul aus dem Subproletariat die Freuden der Subjektivierung ■ Von Philipp Bühler
Eigentlich ist es Ed gewohnt, sich jeden Morgen vor dem Aufstehen erst mal umfassend in den Schritt zu greifen. Ah, das tut gut. Doch irgendetwas ist heute anders. Er macht die Augen auf, blinzelt. Oh nein, die Kamera.
Am Tag zuvor hatte er einem idiotischen Fernsehsender erlaubt, von nun an sein gesamtes Leben Tag und Nacht live zu übertragen. Hastig fährt die Hand zurück. Verlegenes Lächeln an die Welt da draußen. Ed steht auf, geht in die Küche, macht sich ein Ei und beginnt seinen Tag. Das Kamerateam folgt ihm auf Schritt und Tritt. Als er am nächsten Morgen aufwacht, kommt die Hand noch bis zum Bauchnabel. Einen Tag später rührt sie sich gar nicht mehr.
Ed weiß es nicht, aber er wurde soeben einem zivilisatorischen Verfahren unterzogen, das sich, nach Michel Foucault, als Subjektivierung umschreiben lässt. Das erbarmungslose Auge einer unsichtbaren Macht hat sich seines Körpers bemächtigt und formt ihn sich zu einem schönen „Subjekt“. Hört sich schlimm an, ist aber – der Augen sind viele im Leben eines Menschen – ein ganz normaler Prozess der Ichwerdung. Nur dass es Ed, den Jungen aus der Videothek, ein bisschen härter erwischt hat als den Rest von uns: Eds Kernfamilie, die unermüdlich arbeitende Hauptinstanz der Überwachung und Beurteilung, besteht aus Millionen von Fernsehzuschauern.
Ron Howard hat in seiner Mediensatire „EDtv“ einige kluge Einfälle, um sein Thema, den Ruhm, als das darzustellen, was er ist: nicht das individuelle Privileg einiger weniger, sondern ein Massenphänomen. Nichts unterscheidet Ed von seinen Zuschauern. Weil sich alle an seine Stelle wünschen, versucht jeder der kann, sich in seine Show zu drängeln. Der Rest bestimmt über Umfragen, wie Ed sich verhalten soll, wen er etwa statt seiner unbeliebten Freundin zum Dinner ausführen soll, und torpediert damit das ursprüngliche Sendekonzept von „EDtv“, der Docu-Soap. Das pure Leben ohne Drehbuch gibt es nicht.
Ed dämmert allmählich, dass dieses Skript nicht seinen Regeln folgt. Seine Dysfunktion im Hand-Schritt-Kontinuum ist das unbewusste Ergebnis seiner schizophrenen Situation: Eigentlich will der Sender, dass Ed sich an den Eiern kratzt. Denn das Motto seiner Ernennung zum Star war „Bad is better“, das Großmaul aus dem Subproletariat hat also eine Schuld abzutragen. Die Komik des Films ist dementsprechend derb und Geschmackssache, doch es ist eines der Verdienste von „EDtv“, in ein Milieu einzutauchen, das sich sonst nur auf der anderen Seite der Mattscheibe wieder findet.
„EDtv“ ist Arbeitslosenfernsehen im besten Sinne, eine Huldigung an die infamen Menschen, die im wahren Fernsehen keine Chance haben, weil sie jedes Konzept über den Haufen werfen würden. Ed betrachtet im TV seinen Hintern, sein großer Bruder Ray nutzt die Sendung zur Publicity für sein ödes Fitness-Studio. Als ihn Ed in aller Öffentlichkeit beim Seitensprung bloßstellt, um ihm kurz darauf die Freundin auszuspannen, rächt sich Ray mit einem Buch: „My Brother pissed on me“. Die Kommentatoren erblicken „einen neuen Tiefpunkt der amerikanischen Kultur“.
Das Niveau heutiger Fernsehunterhaltung in zweifelhaften Ehren, aber nur in der Satire kann das Leben eines Dahergelaufenen – MTVs „Real World“ in gähnender Erinnerung – zum Quotenknüller werden. Und das Gesetz der Satire, deren strukturelle Harmlosigkeit bei „EDtv“ natürlich daher rührt, dass in diesem Produkt der Unterhaltungsindustrie Ankläger und Adressat dieselben sind, verlangt, dass sich Ed in die Revolte begibt. Den Ausgang dieses Kampfes kennt der aufmerksame Kinogänger bereits, doch erst jetzt, da Ed das Medium sich selbst richten lässt, macht es Sinn, über jenen großen Vorgänger nachzudenken, dem „EDtv“ alles zu verdanken hat, obwohl hier doch alles ganz anders ist.
In seinen Bildern von der mitfiebernden Zuschauergemeinde und den sich vor der Kamera produzierenden Selbstdarstellern gleicht „EDtv“ der „Truman Show“ bis aufs Haar. Doch Truman, das willenlose Opfer der tausend Augen des Dr. Mabuse, trennen Welten von Ed, dem jugendlichen Schlaumeier. Während Truman bis zu seiner zufälligen Selbsterkenntnis gewissermaßen Baby bleibt, hat Ed, der um seine Situation weiß, sich sogar freiwillig in sie hineinbegeben hat, von Beginn an die Chance, erwachsen zu werden und durch das nötige Wissen zu den Freuden der Subjektivierung zu gelangen, die ihm alle Möglichkeiten des Widerstands bis hin zum Selbstausschluss lassen.
Wer das System kennt, muss nicht fliehen, er macht kaputt, was ihn kaputt macht. Und so kämpft Ed an allen Fronten, um sein Leben unsendbar zu machen. Er beschimpft das Publikum. Er besucht seinen Sender. Schließlich dreht er den Spieß um und beauftragt seine Gemeinde, nach den schmutzigsten Details aus dem Privatleben der TV-Oberen zu suchen.
Weil es bald nur noch eine Frage der Zeit und der richtigen Methode ist, bis der Sendeleiter entgeistert „Abschalten!“ brüllt, ist diese hedonistische Gesellschaftssatire viel weniger intellektueller Konzeptfilm als Peter Weirs menschliche Tragödie mit glücklichem Ausgang. „EDtv“ ist eine Schmierenversion der „Truman Show“: Offener, optimistischer, aber nicht klüger. Denn ob berühmt oder nicht, der „wahre Mensch“ heißt weiterhin Truman. Den schlauen Eddie gibt's nur im Fernsehen.
„EDtv“. Regie: Ron Howard. Mit Matthew McConaughey, Woody Harrelson, Elizabeth Hurley u. a., USA 1998, 123 Min.
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