: Unsere Dialektik der wahren Etikette
Findet sich in Ihrer Bibliothek auch ein Ratgeber für feines Benehmen? Worin beispielsweise dargelegt ist, wie vor jeder Benutzung des Wasserklosetts die Spülung zu ziehen ist, damit das Geräusch des sich wieder auffüllenden Wassers die Geräusche des Urinierens und Defäzierens überdecke, Geräusche, die andere in der Wohnung Anwesende molestieren?
Dies Beispiel führte einst zu öffentlichem Amüsement. Es fand sich in dem ersten großen Benimmbuch der BRD, der Titel ist mir entfallen, verfaßt hatten es, wenn ich mich richtig erinnere, Felix von Eckhardt, Pressesprecher Konrad Adenauers, sowie Erica Pappritz, an irgendeiner Regierungsstelle verantwortlich für das Protokoll.
Ihr Benimmbuch rief ein erhebliches Echo hervor, weil es sozusagen offiziös schien. Der Regierungsapparat selbst wollte die BRD-Bürger Benehmen lehren; nachdem sie den Wiederaufbau und das Wirtschaftswunder tüchtig geschafft hatten, stand so etwas an. „Wir sind wieder wer“? Nein, da fehlte noch ein bisschen.
Und dies Bisschen ist dann doch alles: Benimmbücher unterliegen einer eigentümlichen Dialektik. Wollen sie dich einerseits unauffällig schulen für das nächste Plateau deines gesellschaftlichen Aufstiegs, so fixieren sie dich andererseits, indem du sie erwirbst und benutzt, unwiderruflich als Tolpatsch. Feines Benehmen zeichnet sich ja durch seine Selbstverständlichkeit aus; man hat es – oder eben nicht. Als Lehrling sich zu präsentieren ist verboten: Wenn du in England (oder Portugal oder Ungarn) zu verstehen gibst, dass dir das einheimische Wort für Tageskarte fehlt, triffst du auf freundliches Entgegenkommen. Wer bei einer Abendesseneinladung anfängt, bevor die Dame des Hauses ihren Löffel in die Suppe senkt, kann sich keinesfalls darauf rausreden, so weit sei er halt noch nicht beim Durcharbeiten des Benimmbuchs.
So hat die Bundesrepublik als Aufsteigergesellschaft sich der Dialektik der Benimmbücher entwunden. Es findet sich keines in Ihrem Bücherschrank, nicht wahr? Zwar gelten für hoch ritualisierte Gelegenheiten wie Staatsbankette oder Neujahrsempfänge weiterhin die strengsten Regeln – doch geraten nur sehr wenige Leute in diese Gelegenheiten hinein.
Unsereins hält sich an die Grundregel der Informalisierung, die der Soziologe Norbert Elias dem Prozeß der Zivilisation abgelesen hat: Nach welchem genauen Regelwerk das gemeinsame Abendessen verzehrt wird, darauf einigen sich Gäste und Gastgeber unauffällig ad hoc. Michael Rutschky
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