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Scheibengericht

Charlie Musslewhite

Continental Drifter (Virgin)

Ned Sublette

Cowboy Rumba (Rykodisc)

Die Flüge in die Karibik sind ausgebucht, die Hersteller von Rum und Havannazigarren haben Hochkonjunktur, und der Buena Vista Social Club läuft noch immer auf allen Kanälen. Auch Hartgesottene überkommt da leicht die Kuba-Krise. Und voreilig könnte man, genervt von all dem Kuba-Klimbim, die neuen Alben von Ned Sublette und Charlie Musslewhite abtun als durchsichtige Versuche alter Herren, sich an einen aktuellen Trend anzuhängen – von Kuba lernen heißt siegen lernen. Doch das wäre voreilig.

Denn ob Kalkül oder nicht: Sie machen ihre Sache grandios. Was sich bei Ry Cooder nur andeutete, das bringen seine amerikanischen Kollegen zur Vollendung – die Vermählung von kubanischen Klängen mit Country und Blues. Charlie Musslewhite gehört wie Ry Cooder zum Urgestein der US-amerikanischen Roots-Szene, und er besitzt ein Paar ähnlich offener Ohren. Auf „Continental Drifter“ schweift er zwischen den Regionen des amerikanischen Kontinents, spielt mit brasilianischen Einflüssen und auf vier Stücken auch mit dem kubanischen Gitarristen Eliades Ochoa und dessen Cuarteto Patria. Den Buena-Vista-Erkennungssong „Chan Chan“ behandelt die Musikerkooperative als Blues, und das Stück „Sabroso“ wiegt sich in entrücktem Rumba-Swing. Mit der Mundharmonika von Memphis nach Havanna und vom Hochland der Sierra Maestra ins Mississippi-Delta: Musslewhite macht's möglich – und klingt dabei noch zurückgelehnt und altersweise.

Etwas flotter lässt es Ned Sublette angehen. Der schlaksige Sänger, der eine Figur macht wie Dustin Hofmann in „Asphalt Cowboy“, hat seine Liebe zur kubanischen Musik früh entdeckt und sich mit seiner kleinen Plattenfirma „Qbadisc“ schon als musikalischer Embargobrecher betätigt, lange bevor mit dem Buena-Vista-Hype auch in den USA alle Dämme brachen. Sein „Cowboy Rumba“ ist ein souveräner Tanz zwischen den Stühlen. Ned Sublette läßt Buddy Holly Rumba lernen und sattelt den Cowboy-Klassiker „Ghost Riders in the Sky“ auf den karibischen Speed-Rhythmus Merengue um. Das wirkt kein bisschen peinlich oder aufgesetzt, sondern bewundernswert rund. American Blend der Extraklasse.

Barrio Nuevo

Latin Funk, Latin Rock and Latin Soul (SoulJazz)

Die frühen siebziger Jahre üben eine seltsame Faszination aus. Die Welle der Wiederveröffentlichung rarer Grooves reißt nicht ab, und mancher Sampler kommt wie eine überfällige Geschichtslektion daher. „Barrio Nuevo“ erinnert an die Allianzen zwischen US-Latinos und ihren Nachbarn, an die Fusionen von Salsa mit Funk, Soul und später mit Disco.

Die Kompilation spiegelt den Sound in den Barrios von Spanish Harlem in New York, Little Havanna in Miami und East L. A., als Bands wie War und Mandrill an der Kernfusion von Funk und Latin Rock arbeiteten, und aus dem Wechselspiel von afrokubanischen und afroamerikanischen Stilen neue Promenadenmischungen wie der Boogaloo entstanden. Das Schallplattenkratzen der Originalaufnahmen unterlegt schweißtreibende Percussion-Orgien und die schmutzigen Bläsersätze, die den Nummern ihren Latin-Charakter geben. Höhepunkte des Samplers sind Philadelphias Patti Labelle mit der Latin Disco-Eruption „Teach me Tonight“ und das Stück „Anikana-O“, ein zehn minütiger Conga-Wahnsinn, so unwiderstehlich, dass Tote davon augenblicklich wieder zum Leben erwachen müssten.

Flammes du Coeur

Gypsy Qeens (Network)

Vera Bila

Queen of Romany (BMG)

„Eine gute Barsängerin“, so formulierte es Arto Lindsay einmal, das sei eines der größten Komplimente, das man einer Sängerin machen könne. Auf der Kompilation „Flammes du Coeur“ sind gleich sechs solcher Stimmen zu hören. Ob aus dem makedonischen Skopje oder dem spanischen Sevilla, ihnen ist eine Intensität eigen, die Vergleiche mit Billie Holiday oder Edith Piaf durchaus nahe legt. Förmlich riechen kann man den Kneipendunst, der ihre Musik umgibt. Und die reicht, ja nach Herkunft, von Flamenco bis zur Bauchtanz-Animation.

Vor geraumer Zeit brachte das Network-Label einen Sampler heraus, der die musikalische Spur der Roma quer durch Europa verfolgte, bis nach Asien. Die neue Zusammenstellung, wieder als Doppel-CD im Taschenbuchformat, konzentriert sich nun auf die Frauen. Auch hier ein ähnliches Bild: Gesellschaftlich mögen sie als Zigeunerinnen marginalisiert sein, als Musikerinnen sind sie hoch begehrt, nicht selten höchst erfolgreich: etwa Esma Redzepova, die eine der erfolgreichsten Musikgruppen des Balkans leitete, oder die Sängerin Dzansever, die Karriere in der Türkei und im Nahen Osten machte, nachdem sie der türkische Arabesk-Star Ibrahim Tatlises in seine TV-Show lud.

Die Roma-Herkunft bürgt für eine Aura des Authentischen. Als verbindende Klammer taugt sie dagegen wenig, weil „Zigeunermusik“ weder einen Stil beschreibt noch per se ein Qualitätsmerkmal ist. Schließlich verdingen sich die virtuosen Musiker oft genug als Gebrauchskünstler, die ihr Repertoire jeder Gelegenheit anpassen können. Und wer eine „Gypsy Queen“ ist, das entscheiden heute ohnehin Medien und Marketingabteilungen. Das Debüt der Tschechin Vera Bila etwa, vom Plattenmulti BMG gleichfalls als „Roma-Queen“ ins Rennen geschickt, hat wenig von der dramatischen Schwere ihrer Mitmonarchinnen. Auch wenn in den Liedern nicht alles Sonnenschein ist, der Sound ist eine recht glatte Mixtur aus Roma-Pop, Folklore und Flamenco-Swing, fast schon so luftig-leicht wie der kommerzielle Mittelmeer-Pop der Gypsy Kings. Und damit sehr erfolgsträchtig.

  Doob Doob O'Rama

Filmsongs from Bollywood (Q. D. K./Indigo)

Die britische Band Cornershop hat ihr mit dem Song „Brimful of Asha“ die Ehre erwiesen: Asha Bhosle gehörte neben Lata Mangeshkar zu den großen Stimmen des indischen Kinos. Auf „Doob Doob O'Rama“ sind beide vertreten, einer Kollektion obskurer Filmmelodien aus der Blütezeit von „Bollywood“, dem Hollywood des Ostens. Indische Filme basieren bekanntlich bis heute zu einem großen Teil auf Tanz- und Musikszenen. Doch weil die meisten Schauspieler nicht unbedingt auch gute Sänger waren, bürgerte es sich in den Fünfzigern ein, dass die Schauspieler ihre Lippen synchron zum Playback bewegten. So wurden die Sänger zu den heimlichen Stars der Leinwand – nicht zuletzt, weil ein guter Song weit länger im Gedächtnis blieb als die oft kruden Plots der im Schnellverfahren produzierten Streifen.

Hört man die Stücke, dann fällt auf, wie stark sich die indischen Filmschlager bei westlichen Vorbildern beidienten. Mitten im Gesang tauchen urplötzlich James Bond- und Western-Themen auf, es erklingen Surf-Gitarren, Anden-Folklore, oder Henry Mancini spaziert vorbei: Ein wildes Potpourri mit indischen Gewürzen.

Rosanna & Zélia

Coisário (Peregrina)

Anastácia

Lumere Lumerá (Piranha)

Tropisches Deutschland. Die Bundesrepublik scheint, warum auch immer, ein bevorzugtes Ziel für Musiker aus Brasilien zu sein. Nicht nur schauen sie in schöner Regelmäßigkeit auf Tourneen vorbei, einige haben sich gleich ganz hier niedergelassen. Rosanna Tavares und Zélia Fonseca etwa leben in Frankfurt, die Sängerin Anastácia ist seit zehn Jahren Wahlberlinerin.

Brasilianisch-deutscher Kulturtransfer ganz ohne Karneval: Das Duo Rosanna und Zélia bewegt sich auf vertrackten Pfaden zwischen Bossa-Grooves und Jazz-Collagen, ihre Arrangements schaffen eine Atmosphäre bedächtiger Melancholie, introvertiert und versponnen. Auf „Oco de Paixao“ bauen sie sich mit Bass und Berimbau komplexe Rhythmen, die mit der Klarinette ausgemalt werden, und wenn man wenig später vermeint, im Dickicht die Stimme der Rainbirds-Sängerin Katharina Frank gehört zu haben, dann ist sie das auch tatsächlich. Wenn Rosana und Zélia den somnambulen Schwebezustand zwischen Sonnenuntergang und Morgengrauen beschreiben, dann hat Anastácia das sanfte Weckmittel für den Morgen danach. Frisches Gitarrenflirren verbindet sich bei ihr mit dem Rhythmen-Repertoire aus dem brasilianischen Nordosten, und beim „Forro do Vento“ greift sie sogar zum Vocoder.

  Camelspotting

New Music from the Middle East (HEMIsphere)

Globalisierung als Chance: Die international operierenden Plattenkonzerne böten eigentlich die idealen Voraussetzungen zur weltweiten Verbreitung lokaler Musiken. Bisher hat allerdings nur der Branchenriese EMI diesen Gedanken ernsthaft aufgegriffen, und mit seiner HEMIsphere-Reihe eine Abteilung etabliert, in der Highlights aus dem Katalog der Gesamtfirma auch außerhalb des ursprünglichen Verbreitungsgebiets veröffentlicht werden. Der Sampler „Camelspotting“ etwa versammelt Stars aus dem arabischen Raum, die bei der Tochterfirma EMI Arabia unter Vertrag stehen. So erhält auch der mitteleuropäische Hörer einmal die Möglichkeit zu hören, was im Nahen Osten gerade so angesagt ist. Auch wenn auf „Camelspotting“ nicht alles brandaktuell ist, die Auswahl ist recht repräsentativ.

Ägyptens Pop-Sänger Nummer eins, Amr Diab, eröffnet das Album mit seinem Hit „Nour El Ain“, angeblich der bestverkaufteste Song aller Zeiten in der arabischen Welt. Es folgen zehn weitere Topschlager aus Ägypten, dem Libanon und den Golfstaaten, in denen der Himmel voller Geigen hängt, Keyboards im siebten Himmel schweben und tränenreiche Texte von wahrer Liebe erzählen.

Nur auf den ersten Blick witzig, im Grunde etwas beleidigend ist allerdings die Wahl des Covermotivs geraten. Angelehnt an das „Trainspotting“-Plakat, blicken einem auf dem Cover vier dämlich dreinschauende Kamele entgegen.

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