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Verkehrte Welt ■ Von Joachim Frisch
Kinder, die gerade dabei sind, sich die Sprache anzueignen, spielen gerne verkehrte Welt: groß ist klein, mein ist dein, ja ist nein, Mama ist Papa und lecker ist eklig. Die Zwerge finden das mächtig lustig. Im Alter von etwa drei Jahren wird dieses Spiel uninteressant. Es hat seine didaktische Funktion erfüllt, die Kinder können jetzt differenzieren, Gegensätze auf Anhieb erkennen und benennen. Alberne Sprachspielchen haben sie nicht mehr nötig.
Irgendwann aber fangen die Erwachsenen wieder damit an, verkehrte Welt zu spielen. Diese Erwachsenen sind dann allerdings nicht lustig, sondern eine Plage. Die Harmlosesten sind noch die, die immer „Ich will nicht“ sagen, während sie genau das tun, was sie angeblich nicht wollen. „Ich will nicht stören“, sagen sie, während sie mitten in eine Sitzung oder in ein Schlafzimmer platzen. Oder sie sagen „Ich will mich nicht einmischen“, wenn andere etwas Wichtiges bereden, womit sie sich natürlich eingemischt haben. „Nicht unhöflich sein“ wollen diejenigen, die einem mit genau diesen Worten die Ruhe, den Schlaf oder den letzten Nerv rauben. Immerhin sind die „Ich-will-nicht“-Sager noch vergleichsweise harmlos, verunsicherte Würstchen, denen kein Umweg zum nächsten Fettnapf zu weit ist.
Schlimmer ist die „Nicht dass“-Fraktion. Wenn einer ihrer Vertreter den Mund auftut, naht nicht Unheil, sondern es ist bereits da. Wenn jemand sagt „Nicht, dass ich etwas gegen Kinder hätte“, dann wissen wir, dass er Kinder hasst, noch ehe er quakt: „Aber dieser Lärm in der Mittagszeit ist nicht zum Aushalten“. „Nicht, dass ich etwas gegen Ausländer bzw. gegen Musik hätte“, heißt im Klartext: „Ich kann Ausländer bzw. diese Musik nicht ausstehen und rufe gleich die Polizei“. Die Nicht-dass-Sager sind keine Trottel wie die Ich-will-nicht-Sager, sondern entschlossene Spießbürger und Denunzianten.
Immerhin aber weiß man, wenn jemand „nicht dass“ sagt, mit wem man es zu tun hat. Noch schwerer erträglich wird es, wenn jemand einen Satz mit „bei aller“ bzw. „bei allem“ beginnt, denn diese Menschen sind nicht nur spießig, sie sind spießig, hochnäsig und herrisch. Es gibt nichts Unfreundlicheres als einen Satz mit „bei aller Freundlichkeit“ zu beginnen, nichts Liebloseres als Menschen, die „bei aller Liebe“ und nichts Respektloseres, als Leute, die „bei allem Respekt“ sagen – weil mit hundertprozentiger Sicherheit ein anmaßendes, oberlehrerhaftes und herrisches „Aber das geht zu weit“ oder „Das ist zuviel“ folgt. Wer „bei aller“ sagt, spricht von einem Podest der Arroganz herab. Mit dem „bei aller“ signalisiert er seine Macht und maßt sich an, seine Mitmenschen zu nerven, zu beurteilen und zu maßregeln. Kein rechtschaffener Mensch braucht ihn, Despoten und Menschenschinder aber bedienen sich seiner Hilfe. Der Klugscheißer und Blockwart dient den Despoten und Menschenschindern gerne, weil er damit einen Zipfel des Mantels der Macht ergreifen und andere Menschen mit Sätzen, die mit „bei aller“ beginnen, anherrschen darf.
Adorno hat zu dem Thema Herrschen und Unterwerfen kluge Dinge gesagt, die hier gut passen würden, doch leider habe ich meine Adorno-Zitatensammlung verlegt. Zum Glück ist ja auch die Kolumne schon voll.
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