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Rosen im Namen des Herrn

Er kommt unangemeldet, hat Rosen dabei und löst Misstrauen aus: Dabei ist Helmut Scheel nur ein Pfarrer, der seine Gemeinde kennen lernen will    ■ Von Barbara Bollwahn de Paez Casanova

Er kommt zwischen 17 und 20 Uhr und klingelt nur an den Türen von Geburtstagskindern. Zugang verschafft er sich mit einer gelben Rose. Erst wenn er sich mit seinem Rennrad wieder aus dem Staub macht, atmen die Besuchten auf. Doch es handelt sich nicht um einen Rosenmörder oder Rosenkavalier. Der Unbekannte ist auf mehr aus: Er will die Seelen.

Der Mann mit der Rose ist Hartmut Scheel, Pfarrer der evangelischen Sophiengemeinde in Berlin-Mitte. Es war vor einem Jahr, als er die Pfarrstelle mit den etwa 2.000 Mitgliedern übernahm und er sich fragte: „Wie lerne ich die Leute kennen?“

Als er von Kollegen erfuhr, dass die Menschen Geburtstage als „hinreichenden Grund“ für einen Besuch ansehen, wurde der 45-Jährige zum Partygänger im Auftrag des Herrn. Um nicht mit leeren Händen dazustehen, entschied er sich für Rosen. Weil weiße Rosen selten, rote zweideutig und blaue albern sind, nahm er gelbe.

Heute hat Scheel vier Geburtstage auf seiner Liste. Er schnallt sich seinen Fahrradhelm auf und tritt in die Pedale seines Rennrades. In seinem Freizeitlook mit Polohemd, Jeans, Sandalen und der schnittigen Fahrradbrille sieht er nicht wie ein Geistlicher aus. Sein erster Stop ist der Blumenladen „Tausendschön“. „Ich brauche meine Rosen“, sagt er, „heute sind es vier Stück.“ Man kennt ihn in dem Geschäft. Bei der ersten Adresse, einer 21jährigen Frau, klingelt Scheel vergebens. „Es könnte eine Studentin sein, die in den Semesterferien ist“, überlegt er und streicht den Namen von seiner Liste.

Seine nächste Station ist ein Gästehaus der Humboldt-Universität. An der Pforte erfährt er, dass der Gesuchte schon lange nicht mehr dort wohnt. „Gut, danke schön“, ruft Scheel und sitzt schon wieder auf dem Rad. Bei der dritten Adresse antwortet ihm zumindest eine Stimme über die Gegensprechanlage. Doch das Geburtstagskind ist verreist.

Weiter geht es in ein Hochhaus in der Friedrichstraße zwischen Friedrichstadtpalast und Berliner Ensemble. Pfarrer Scheel weiß, auf wen er treffen wird – auf einen seiner drei Sozialfälle in der Gemeinde: Familie Witt mit ihren acht Kindern. Zwar ist nur der Vater getauft, doch Scheel besucht auch die nicht getauften Kinder von Gemeindemitgliedern.

David, der drittälteste, wird heute acht Jahre alt. Seinen Bruder Heiko, der vor kurzem drei geworden ist, hat Scheel vergessen. Doreen, die Älteste, wird in wenigen Tagen 17, Tobias feiert am 31. August seinen sechsten Geburtstag. Scheel wird es sich merken.

Familie Witt macht dem Pfarrer keine falschen Hoffnungen. „Mit den Kindern hat man nicht die Zeit“, sagt Klaus Witt, der seit sechs Jahren wegen Problemen mit der Bauchspeicheldrüse nicht mehr arbeiten kann. Außerdem würden die Kleineren noch nicht verstehen, was die Kirche ist. „Die Großen wollten mal vorbeischauen, haben sich dann aber nicht getraut“, erzählt Klaus Witt. Seine Frau Heidemarie sagt, dass es nicht einfach sei mit acht Kindern in der Kirche: „Die wollen beschäftigt sein.“ Pfarrer Scheel hat Verständnis: „Schon der Anmarsch morgens ...“

Im Szenebezirk Mitte, wo kein Monat vergeht, in dem nicht eine neue Bar oder ein neuer Club aufmacht, sind Familien wie die Witts die Ausnahme. Über 90 Prozent der Bewohner sind Singles, sagt der Pfarrer. Der Großteil sei zwischen 26 und 35 Jahren alt, Familien werden immer rarer: „Eine völlig abnormale Altersstruktur.“ Scheel, der als Sohn eines Pfarrers in Hamburg geboren wurde und mit drei Monaten nach Teltow bei Potsdam, gleich an der Grenze zu West-Berlin kam, wohin sich sein Vater abwerben ließ, galt in der Schule als „Mathegenie“.

Auch heute noch kann er mit Zahlen gut umgehen: „Seit dem 14. August vergangenen Jahres habe ich an 1.740 Türen geklingelt“, liest er seine Statistik vor. „Ich sage mein Sprüchlein an der Tür und gucke den Leuten tief in die Augen. Viele schauen verdutzt, wenn ich sage, ich will gratulieren. Manchmal schlägt mir Misstrauen entgegen – nach dem Motto: Das kann ja jeder behaupten.“ Die Atmosphäre lockere sich erst, wenn er sich verabschiedet hat. „Dann merken die Leute, ich will wirklich nichts.“

Über 400-mal hat es der Pfarrer geschafft, für ein längeres Gespräch zu bleiben, 442-mal kamen kurze Gespräche zustande, und 266-mal hat er Angehörige angetroffen. Bei seinen Touren merkt der Pfarrer, dass „erstaunlich viele ihrer Meldepflicht nicht nachkommen“. Seine Frau, die als Bibliothekarin an der Humboldt-Universität arbeitet, mag mittlerweile keine gelben Rosen mehr: Die Blumen, für die ihr Mann keine Abnehmer findet, landen zu Hause in der Blumenvase.

Über die Rosenkäufe führt Scheel keine Statistik. Weil er sie in vier verschiedenen Blumenläden kauft und nicht handelt, zahlt er bis zu vier Mark das Stück. So haben die Floristen in seinem ersten Dienstjahr über 5.000 Mark an ihm verdient. Auch eine Sache, für die seine Frau auf Dauer kein Verständnis hat.

Hartmut Scheel macht sich nichts vor. Er weiß, dass sich das Rosengeschäft nicht rechnet. Er erwartet nicht, dass passive Gemeindemitglieder ihm nach seinem Besuch die Türen einrennen – Zumal in der Sophiengemeinde jeden Sonntag im Schnitt einhundert Menschen sitzen. „Ein kleines Wunder“, wie er sagt. Das sei schon immer so gewesen. „Es geht mir darum, dass die Leute wissen, wen sie antreffen, wenn sie etwas wollen.“ Und er weiß dann, mit welchen Leuten er es zu tun hat.

Seine Wege haben ihn an Küchentische in Wohngemeinschaften geführt, und auf ausgelassenen Hinterhofpartys sorgte er als der große Unbekannte für Gesprächsstoff. Von einer schwedischen Regisseurin, die er in der Wohnung einer Frau antraf, die für längere Zeit nach New York gegangen war, hat er seinen „ersten dienstlichen Kuss“ bekommen – als Dank für die Rose, die er ihr schenkte, weil sie am nächsten Tag Geburtstag hatte. Einmal hat ihm der angetrunkene Ehemann des Geburtstagskindes Prügel angedroht. Sein größter Feind aber ist die Technik: „Es ist nicht einfach“, sagt er, „anonym an einer Gegensprechanlage abgefertigt zu werden.“

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