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Club Tropical

Der „Latin Pop“ hat die Grenze zum US-Mainstream überwunden, aber die Kulturrevolution bleibt aus. Von Selena bis Ricky Martin: Genealogie einer Inklusion  ■   Von Daniel Bax

Ein Ende wie im Fotoroman. Als Selena, die Königin des Tejano-Pop, mit 24 Jahren ermordet wurde, da war sie gerade auf dem Sprung, mit ihrem ersten englischen Album in den Mainstream-Markt der USA einzubrechen. Ihr Tod und dessen makabere Umstände – ausgerechnet die Expräsidentin ihres Fanclubs hatte sie erschossen – waren die Top-Nachricht des Aprils 1995 in den USA und machten die Sängerin nachträglich landesweit berühmt.

Nach ihrem Ableben wurde Selena auch von angloamerikanischen Hörern entdeckt, ihr zweisprachiges Debüt „Dreaming of you“ schnellte an die Spitze der US-Hitlisten. Erst durch Selenas Tod nahmen viele Nichtlatinos Notiz von Tejano, der akkordeonbetriebenen Volksmusik aus dem Süden von Texas, die zur Jahrhundertwende aus der Begegnung polnischer und mexikanischer Landarbeiter hervorgegangen war, ein Stilmix aus Polka und Walzer mit Cumbia und Country. Anfang der Neunziger hatte Selena sich in der Männerdomäne des Tejano durchgesetzt und das hispanische Publikum erobert. Mit Synthesizer versetzt, seicht und melodramatisch, billig und banal, erlebte Tejano, die Musik der Hinterwäldler aus den Südstaaten, dank Selenas Star-Qualitäten einen enormen Popularitätsschub nicht nur in den USA, sondern bis weit nach Lateinamerika. In ihrem kurzen Leben stieg Selena zum Idol der Region auf, zum Role-Model für eine ganze Generation hispanischer Mädchen.

Bis heute wird sie dies- und jenseits der Grenze wie eine Heilige verehrt: Santa Selena. Ihr Grab in der Stadt Corpus Christi ist zum Wallfahrtsort geworden, ein Graceland im Grenzgebiet zwischen Mexiko und den USA. Mit Selena-Statue am Strand, Museum auf dem Studiogelände und einer Boutique erinnert hier alles an die Latino-Ikone. Auch im Internet führt Selena ein recht aktives Dasein, und zu kaufen gibt es im Versand allerhand Devotionalienkitsch, von Porzellanstatuen über T-Shirts bis hin zu Selena-Kaffeetassen und -Kosmetik.

Der Rummel um die Tote weckte aber auch die US-Musikindustrie aus ihrer Ignoranz. Selenas kommerzielles Weiterleben warf ein Schlaglicht auf die Profitabilität des Latino-Markts: denn wenn schon eine Tote Millionen Tonträger verkauft, wie viel müsste dann erst mit einem Star zu machen sein, der noch lebt? Ihr frühes Ende geriet so zur Initialzündung für die Karrieren anderer Latino-Musiker in den USA.

Vier Jahre später sorgt ein Puertoricaner namens Ricky Martin in den US-Charts für Furore. Weder ist er tot, noch drückt er auf die Tränendrüse, stattdessen propagiert er „La Vida Loca“. Außerdem singt er im Duett mit Madonna, was im US-Pop einer Erhebung in den Adelsstand gleichkommt. Von Time bis zum Rolling Stone widmeten amerikanische Zeitschriften ihre Titelseiten dem Phänomen, das eigentlich kein neues ist. Denn Ricky Martin ist zwar erst 27 Jahre alt, aber schon sein halbes Leben im Geschäft. Als Halbwüchsiger sang und tanzte er in der Latin-Boygroup Menudo, nach deren Auflösung startete er in den Staaten in TV-Soaps und Broadway-Musicals eine zweite Laufbahn.

Weil er in seiner Nebentätigkeit als Pop-Sänger im Ausland und unter US-Latinos einigen Erfolg hatte, einigte man sich in der US-Konzernetage des Musikgiganten Sony auf ihn als idealen Kandidaten für eine Karriere als rassen- und klassenübergreifendes Latino-Idol des Landes und baute ihn entsprechend auf. Ricky Martins Erfolgsgeheimnis lautet: „perfektes Produkt, perfektes Marketing, perfektes Timing“. Sein englisches Album ist ein fast schon unverschämt berechnendes Machwerk – gefallsüchtig, energisch und auf maximale Radiotauglichkeit ausgerichtet, unter gezieltem Einsatz ausgesuchter Latin-Elemente. Damit stieg er zum Shooting Star der Saison auf.

Sprachwechsel wegen Radio-Segregation

Ihm folgt eine ganze Latino-Brigade, die wie er den Norden erobern will. Enrique Iglesias, der Sohn des Witwentrösters Julio, singt seinen Schmusepop nun auch auf Englisch, er partizipiert auf dem Soundtrack des Hollywood-Blockbusters „Wild Wild West“. Sein Kollege Chayanne spielte die Hauptrolle in dem Latin-Tanzfilm „Dance with me“, der in diesem Sommer in die Kinos kam. Und für den Herbst sind die ersten englischen Alben des Salsa-Stars Marc Anthony angekündigt sowie der Rocksängerin Shakira, einer Alanis-Morissette-Kopie aus Kolumbien. Als Selena-Stellvertreterin wurde derweil die Schauspielerin Jennifer Lopez gecastet. Im wahrsten Sinne, denn vor zwei Jahren spielte sie die Rolle der Selena in der gleichnamigen Film-Biografie. Damals bewegte sie nur die Lippen zu den Selena-Songs, inzwischen debütierte sie selbst als Sängerin. Ihr erstes Album „On the 6“ bietet passables Tanzflächenfutter mit einem feinen Latin-Hauch, der keinem wehtut. Obwohl für die Platte teure Star-Produzenten wie Puff Daddy und Emilio Estevez verpflichtet wurden, klingt sie nach dünner Stimme auf Billig-Beats vom Band. Trotzdem wird Jennifer Lopez hoch gehandelt, das Rap-Zentralorgan Vibe pries sie gar als „größtes Ereignis aus der Bronx seit der Geburt des HipHop“.

Vor Ricky Martin war der Latin-Beigeschmack wenig angesagt in den USA. Jetzt gilt er als das neue Nonplusultra. Manche sehen darin schon die Latinisierung der US-Gesellschaft anklingen. „Diese Musik könnte der Sound ihrer Zukunft sein“, schrieb Time. Bisher waren die mehr als 30 Millionen Latinos in der US-Unterhaltungsindustrie deutlich unterrepräsentiert. Doch der demografische Wandel macht sich bemerkbar: Seit 1990 ist ihre Zahl, dank Einwanderung und hoher Geburtenrate, um mehr als ein Drittel angewachsen, besonders in den urbanen Zentren gewinnt die Latino-Bevölkerung an Gewicht. Al Gore und George Bush haben deswegen beide im Wahlkampf stets ein paar spanische Vokabeln parat, in Hollywood setzt man auf Schauspieler wie Selma Hayek, Antonio Banderas, Andy Garcia und Jennifer Lopez, und Latin Pop verzeichnet schon jetzt die höchsten Wachstumsraten. International haben Latin-Musiker einen großen Startvorteil: Spanisch ist Weltsprache. In den USA jedoch ist damit der Sprung über die Genre-Grenzen schwierig. Das Format-Radio leistet der Segregation Vorschub, der Sprachwechsel ist deswegen obligatorisch, will man auch im Mainstream-Programm laufen.

Exemplarisch hat das Gloria Estefan vorgemacht. Mit ihrer Gruppe Miami Sound Machine nahm sie in den frühen achtziger Jahren vier spanische Alben auf, bevor 1984 mit dem englischen Song „Dr. Beat“ der Durchbruch kam. Als sie später solo weitermachte, verlegte sie sich auf den steten Wechsel zwischen Salsa-Pop, Schmalzballaden und Disco-House. Die Tochter eines ehemaligen Batista-Bodyguards ist nicht nur eine Galionsfigur der Castro-Gegner, sie ist auch der Prototyp für Latin-Pop made in USA. In ihrem Antikommunismus ist sie katholischer als der Papst, trotz Anfrage von Kirchenoffiziellen lehnte sie es ab, zur Papst-Messe im Januar 1998 ein Konzert auf Kuba zu geben. Andererseits verkörpert sie aber auch die erfolgreichste Symbiose aus Ami-Pop und afrokubanischem Sound, weswegen sie allseits geschätzt wird. Ihr Ehemann Emilio Estefan, ehemals Keyboarder der Miami Sound Machine, kolportiert gerne, wie er einmal aus einer Plattenfirma flog, weil er es gewagt hatte, Conga-Beats zum Discosound zu kombinieren. Heute ist er genau deswegen ein gefragter Mann – eine graue Eminenz des Latin Pop, die bei allen wichtigen Produktionen der letzten Zeit ihre Finger im Spiel hatte.

Der Durchbruch des Latin Pop, der in diesem Jahr auf ganzer Front stattzufinden scheint, kommt nicht von ungefähr, sein Siegeszug ist das Ergebnis eines strategischen Kalküls. „Ethnic Marketing“ nennt man das im Mutterland dieser Idee. Nun sind die Latinos in den USA keine homogene Gruppe, im Gegenteil: Gilt New York als heimliche Hauptstadt der Karibik, so ist Miami die Kapitale der Exilkubaner und Los Angeles die der Chikanos, der Einwanderer aus Mexiko und Mittelamerika. Alle hören sie unterschiedliche Musik. Hit-Potential hat ein Musiker daher erst, wenn er es schafft, die Community-Grenzen zu überwinden und die gesamte spanischsprachige Bevölkerung anzusprechen, möglichst auch noch alle anderen.

Homogenisierung der Communities

Diese Bündelung scheint mit Ricky Martin gelungen zu sein. Manchmal reicht ein Künstler, um einen Trend zu setzen. In diesem Fall ist es vor allem das Werk einer Plattenfirma. Sony hat am meisten unternommen, um den Latin Pop zu etablieren, und praktisch alle Latin-Pop-Künstler von Rang sind bei dem Konzern unter Vertrag, von Estefan bis Lopez.

An deren Erfolg gibt es auch Kritik: Im Latin Pop zeige sich die weitestgehende Anpassung an den US-Mainstream, im Grunde fänden sich im Gesamtsound nur noch Salsa-Spurenelemente. Statt von Selbstbewusstsein zeuge der Latin Pop daher von Kompromiss und Mimikri – die Kulturrevolution bleibt aus. Auch sei immer noch „das weiße Gesicht der Karibik“ dominant, beklagte etwa die Schriftstellerin Esmeralda Santiago. Und die Soziologin Frances Aparicio dürfte sich in ihrer These bestätigt fühlen, dass lateinamerikanische Musik in der Adaption durch die weiße Mehrheit stets erotisiert und depolitisiert werde – verkaufen sich die „Nuevo Latinos“ denn nicht mehr als Sex-Symbole denn als Künstler? Überhaupt ist nicht alles La Vida Loca für die Latinos im Lande; das neue Winner-Image steht im auffälligen Gegensatz zu den ökonomischen Daten, nach denen die Latino-Bevölkerung immer noch weit hinter dem US-Durchschnitt liegt. Die neuen Stars dienen folglich mehr als Kellner im Club Tropical denn als Botschafter des Barrio.

Was wird bleiben vom „Summer of loving Latin“ (Interview)? Die Zeichen deuten auf einen bleibenden Effekt. Plattenläden ordnen ihre Abteilungen neu, ein neues Messsystem soll die bisher vernachlässigten Latin-Verkäufe registrieren. Whitney Houston will ein spanischsprachiges Album aufnehmen. Und Selena? Für diesen Herbst ist in San Antonio ein Selena-Musical geplant. Und das Smithsonian Museum of American History hat kürzlich Selena-Memorabilia von ihrer Familie aufgekauft. Fortsetzung folgt.

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