: Blabla mit hohem Output an Leerformeln
betr.: „Ich kann es nicht mehr hören“, Interview mit Andrea Fischer, taz vom 8. 7. 99
Zurück aus dem Urlaub – Sichtung der aufgelaufenen Zeitungen: Interview mit der Gesundheitsministerin. Das übliche Blabla mit hohem Output an Leerformeln und dann kommt: „Verantwortungsbewusste Ärzte“ tun so was nicht. Ja Frau Fischer, warum denn nicht? Ob ich verantwortungsvoll handle oder nicht: Budget bleibt Budget. Und wenn's überschritten is, dann is Schluss mit lustig und auch mit verantwortungsvoll. Weil, wenn ich's überschreite, dann werde ich in Haftung genommen und muss zahlen. Was meint denn die gute Frau, wie lange kann ich's mir leisten verantwortungsvoll zu handeln?
[...] Die Ärzte, die sich bislang um ihre beknackten Funktionäre genausowenig scherten wie um Politikergesabbel und versucht haben, vernünftige Medizin zu realisieren, genau die haben nunmehr den Kanal gestrichen voll. Die Mischung aus Stammtischparolen und nur eingeschränkter Ahnung davon, was echt abgeht in unserem Gesundheitswesen (oder ist's nicht wenig Ahnung, sondern stringent kalkulierte Politik?) mit der Übergabe der alleinigen Entscheidung an die Krankenkassen, die bringt's. Endlich bekommen die Deutschen die Medizin, die sie haben wollen: Formulare, Formulare ... Die Deutschen? Nein, nur die, die sich nix anderes leisten können. Kleine Kostprobe?
Ein eineinhalbjähriges Kind mit angeborener Stoffwechselstörung benötigt eine spezielle Diät lebenslang. Seit dem 1. 6. verlangt die Kasse alle vier Wochen eine Bescheinigung über die Notwendigkeit der Maßnahme (Formulare, Formulare). Anruf bei der Kasse, es sei eine lebenslang notwendige Maßnahme, ob denn wirklich alle vier Wochen ... Sie verstehe das schon, es handele sich um eine lebenslange Erkrankung, meint die Sachbearbeiterin, aber sie habe ihre Anweisungen. Noch ne Kostprobe? 70-Jähriger, erfolgreiche Behandlung eines bösartigen Lymphdrüsenkrebses. Bei den Nachkontrollen verdächtiger Knoten im Bauchraum. Um zu klären, ob bösartig oder nicht, wird eine PET (bildgebendes Verfahren) vorgeschlagen (Kosten zirka 4.000 Mark). Nach vier Wochen, und auch das erst nach heftigem Drängeln, kommt der Bescheid der Kasse: ... die Untersuchung erscheine „nicht mehr sinnvoll“. O, welch brillante Formulierung! Auf „sozialverträgliches Frühableben“ steht ja die Höchststrafe durch die Medien. Aber diese wunderbare Formulierung der Kasse, um klarzumachen, dass für so alte Säcke nicht mehr so viel Geld ausgegeben wird ...
Es ist sicher nicht richtig, nur den Ärzten auch nichtmedizinische Entscheidungen zu überlassen. Aber jetzt fällen die Verwaltungsfachleute der Kassen medizinische Entscheidungen.
Noch ein kleines Beispiel? Bei einer bestimmten Blutkrankheit (spezielle Form der Thrombopenie) lässt sich eine definitive Diagnose nur stellen durch eine molekularbiologische Untersuchung. Mir wurde erklärt, das würde 6.000 bis 8.000 Mark kosten. Wenn ich als überweisender Arzt den Molekulargenetikern mittels Überweisung den Auftrag gebe, ist mein gesamtes Laborbudget (O III) verbraucht, das heißt, wenn ich in diesem Quartal noch weitere Laboruntersuchungen veranlasse, kriege ich das von meinem Konto runtergebucht. Im Klartext: Ich kann dann in drei Monaten nur diese eine Laboruntersuchung veranlassen – was auch immer an sonstigen Krankheitsbildern in der Praxis eintrudelt. [...] Wie definiert man da verantwortungsvoll?
Noch 'ne Kostprobe? Gut, noch eine kleine. 14-jähriger Junge mit Kleinwuchs (Richtung Liliputaner) kommt aus Kuba. Diagnose Wachstumshormonmangel. Therapie: Wachstumshormon. Kosten pro Monat für die Ampullen zirka 4.000 Mark. Angesichts des Alters sollte rasch mit der Therapie begonnen werden, weil mit Fortschreiten der Pubertät das Hormon nicht mehr wirkt. Antrag bei der Kasse – Funkstille – Anruf. „Is in Arbeit.“ Funkstille – Anruf. „Antrag liegt nicht vor, ist verschwunden.“ Vater haut wutentbrannt, persönlich Aug in Aug mit dem Sachverzögerer, bei der Kasse auf den Tisch: Antrag genehmigt. Soll man Böses dabei denken?
Nun gut Leute, wahrscheinlich glaubt die Storys sowieso wieder kein Schwein ... Dr. med. D. Wutschel, Dortmund
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