piwik no script img

Husarenritt des Mr. 60 Prozent

Bei der Tour de France 1998 hat der Radsport keineswegs seine Unschuld verloren – er hat niemals eine solche besessen, wie zwei aufschlussreiche Bücher von Insidern belegen    ■ Von Matti Lieske

Berlin (taz) – Ein gehöriger Schreck fuhr manch einem Teilnehmer der Tour de France 1999 in die Glieder, als der Weltverband UCI kurz vor Beginn bekannt gab, dass Corticoide nunmehr bei Dopingkontrollen nachweisbar seien. Gelinde Panik erfasste jene, die ihre übliche Kur mit dem verbotenen Mittel hinter sich hatten, vor allem, weil unklar war, wie lange der Stoff im Körper aufzuspüren war. Spuren von Corticoiden wurden zu Tour-Beginn bei etlichen Fahrern entdeckt, es gab jedoch keine Sanktionen, weil die Werte zu niedrig waren oder der Gebrauch durch ärztliche Atteste gedeckt war.

Corticoide spielen auch eine wichtige Rolle in zwei Büchern zum Radsport: „Gedopt“ von Willy Voet und „Rough Ride“ von Paul Kimmage. Als der Ire 1990 zur Tour de France kam, war er ein Paria. Im Jahr zuvor hatte er dieses Rennen noch selbst bestritten und war während der 12. Etappe in den Besenwagen gestiegen, einen Tag, nachdem sein Kapitän Stephen Roche die Tour wegen einer Knieverletzung aufgegeben hatte. Es war der letzte Tag in der Profikarriere des irischen Radfahrers, 1990 kam er nicht mehr als Teilnehmer, sondern als Journalist.

Daran lag es jedoch nicht, dass nicht einmal seine ältesten Freunde im Peloton mit ihm reden wollten. Der Grund war, dass er inzwischen „Rough Ride“ geschrieben hatte, in dem er nicht nur schilderte, wie der beste Amateur Irlands hoffnungsfroh in die große Welt des Radsports aufbricht, um dort ein Dasein als mittelmäßiger Wasserträger zu fristen. Paul Kimmage prangerte auch die Missstände des Gewerbes an. Die Kirmesrennen, die fast alle Profis mit Drogen fuhren, weil es keine Kontrollen gab, die Absprachen darüber, wie der Zieleinlauf aussehen sollte, die Geldbeträge, mit denen Fahrer dazu gebracht wurden, nicht um den Sieg bei Rennen oder Etappen zu spurten, und die verbotenen Medikamente, ohne die nur wenige Profis auskommen konnten. Und er nannte Namen. Damit hatte Kimmage die berüchtigte Mauer des Schweigens gebrochen, die den Radsport umgibt. „Rough Ride“ wurde Anfang 1998 neu aufgelegt, kurz bevor die Tour de France desselben Jahres Dinge an die Öffentlichkeit brachte, die sich selbst Kimmage damals nicht hätte träumen lassen.

Zu seiner aktiven Zeit waren die vorherrschenden Dopingmittel Amphetamine, Ephedrin, Koffein, Testosteron und Corticoide, erst die neunziger Jahre brachten die Invasion der nicht nachweisbaren Hormone, wie Erythropoietin (Epo) oder HGH – wesentlich gefährlicher, gesundheitsschädlicher und wirksamer als die alten Stoffe. Paul Kimmage, der schon während seiner Zeit als Profi Artikel für irische Zeitungen und Magazine schrieb, klagte jedoch nicht die Radprofis an, sondern die Funktionäre, die ein System geschaffen hatten, in dem es ohne Stoff kaum ein Überleben gibt. Eigentlich entschlossen, sauber zu bleiben, greift auch Kimmage einige Male zu verbotenen Mitteln. Wer nichts nimmt, wenn die Wahrscheinlichkeit einer Kontrolle gering oder gar gleich null ist, hat nicht nur keine Chance, sondern gilt auch als schlechter Arbeitnehmer und mieser Kumpel, weil er ja die Aussichten seines Teams mindert.

Wer wirklich clean bleiben will, so legt es „Rough Ride“ nahe, muss aufhören, so wie der schottische Ex-Weltmeister Graeme Obree, der erklärte, er könne nicht mit Leuten konkurrieren, die Epo benutzen. Oder es geht ihm wie Charly Mottet, nach Aussage des zu zweifelhafter Berühmtheit gelangten Festina-Masseurs Willy Voet ein entschlossener Dopingverächter. Der Franzose war zweimal Vierter (1987 und 1991), einmal Sechster (1989) bei der Tour, gegen Ende baute er regelmäßig ab – im Gegensatz zu anderen Fahrern. „Ohne Übertreibung kann man sagen, dass Charly Mottet während seiner Karriere ein Opfer des Dopings war“, meint Willy Voet leicht scheinheilig, denn der Belgier ist einer, der auf der anderen Seite der Spritze stand.

Der Mann, der 1998 den Tour-Skandal ins Rollen brachte, als er mit einer Ladung Dopingmittel erwischt wurde, arbeitete seit 1972 als „Soigneur“, eine Art Allround-Faktotum in den Radsportteams, und hat die Entwicklung auf dem Dopingsektor direkt mitbekommen – von den Zeiten, als es noch ein Leichtes war, bei Kontrollen Fremdurin einzuschmuggeln, bis ins Epo-Zeitalter, das seinen Höhepunkt 1996 erreichte, bevor der Weltverband UCI einen Hämatokritgrenzwert von 50 Prozent festlegte. Spöttisch kommentiert Voet den „frappierenden Husarenritt“ von Bjarne Riis, der im Fahrerfeld in Anspielung auf den Hämatokritwert den Namen „Mister 60 Prozent“ getragen habe, bei der Tour 1996 . Der Däne ließ alle stehen, obwohl der Hämatokritwert der anderen, besonders bei Festina, „locker 54 Prozent betrug“ (Voet).

Willy Voet zerstört gründlich den Mythos vom arglosen Sportler, der nicht weiß, was ihm der Teamarzt gibt. Profis wie zum Beispiel Richard Virenque wären oft besser informiert gewesen als die Doktoren und hätten jedes neue Mittel enthusiastisch begrüßt. „Wenn ich dir alles gespritzt hätte, was du verlangt hast, wärst du längst tot“, rief Voet seinem langjährigen Schützling Virenque bei einer Gegenüberstellung vor Gericht zu. Das Buch „Gedopt“ enthält als Faksimile die Kalenderblätter, auf denen Voet akribisch die regelmäßigen Dosen von Epo, Wachstumshormonen, Corticoiden oder Clenbuterol verzeichnet hat, die Virenque, der immer noch alles bestreitet, und andere, geständige Festina-Fahrer wie Zülle oder Dufaux bekamen. Auch ohne diese Belege gibt es keinen Grund, die Glaubwürdigkeit der von Willy Voet mit vielen Beispielen belegten Darstellung der Radsportszene zu bezweifeln.

Besonders schlecht kommen in beiden Büchern die Funktionäre und Veranstalter weg, die jahrelang tatenlos zuschauten, sich hinter Statistiken von Dopingkontrollen versteckten und deren Laxheit hinnahmen. Voet schildert zum Beispiel den Fall des Festina-Fahrers Laurent Brochard, bei dem nach seinem WM-Gewinn 1997 der Entzündungshemmer Lidocain gefunden worden sei, den dieser offenbar von einem privaten Helfer bekommen hatte. Der Festina-Arzt habe nachträglich ein zurück datiertes Attest vorgelegt, das von der UCI problemlos akzeptiert worden sei.

Leute wie Paul Kimmage wurden von den Funktionären stets als verleumderische Nestbeschmutzer abgekanzelt. „Obwohl es schmerzt, ,Rough Ride‘ hat nichts geändert“, schreibt der Ire im Vorwort zur Neuauflage, es sei einfach als Geschichte eines „kleinen, verbitterten Mannes“ abgetan worden. Dank Willy Voet und seinem missglückten Ampullentransport ist das heute nicht mehr ganz so leicht wie damals.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen