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Die Wohnung wird zur bedrohlichen Höhle

Ein paar Zehntel mehr auf der Richterskala, und Istanbul wäre weitgehend zerstört worden. So hat das Erdbeben viele Häuser nur beschädigt. Doch für die Bewohner bedeutet das Lebensgefahr  ■   Aus Istanbul Jürgen Gottschlich

Für einen Moment halten die Umstehenden den Atem an, dann beugt sich die zentnerschwere Betonplatte in die richtige Richtung. An zwei riesigen Kränen befestigt, wird die Decke eines siebenstöckigen Wohnhauses Zentimter für Zentimeter angehoben und schließlich zur Seite geschafft. Dann kann die Bergungsmannschaft heran. Zwanzig Leute sollen sich noch in den Trümmern des Hauses befinden. Zu einem der Verschütteten haben die Retter Kontakt über Handy.

Drei Tage nach dem verheerenden Erdbeben in der Westtürkei, wird überall verzweifelt nach Überlebenden gegraben. Insgesamt 30.000 Menschen sollen noch verschüttet sein. Hier, in Avcilar, einem westlichen Vorort von Istanbul, sind die Bedingungen für die Bergungsmannschaften vergleichsweise gut. Die schweren Kräne, die für eine effektive Rettung der Verschütteten notwenig sind, konnten leicht herangeschafft werden. Direkt vor dem zusammengebrochenen Wohnhaus verläuft die Stadtautobahn.

„In Avcilar“, so einer der Rettungsarbeiter, „kann man sehen, wie knapp Istanbul an einer unvorstellbaren Katastrophe vorbeigeschlittert ist.“ Die meisten Häuser sind nicht völlig zusammengebrochen, sondern nur beschädigt. Doch ein paar Zehntel mehr auf der Richterskala, und auch sie lägen in Trümmern. Für viele Bewohner haben sich ihre Wohnungen in bedrohliche Höhlen verwandelt, die man nur noch unter Lebensgefahr betreten kann. Überall zwischen den Häusern , in Grünanlagen, auf Spiel- und Parkplätzen haben sie Zeltunterkünfte aufgebaut. Die Bewohner wissen nicht, wie es weitergehen soll, aber sie sind zumindest mit dem Notwendigsten versorgt. In Avcilar gibt es Wasser, Strom und Lebensmittel.

All das fehlt in vielen anderen vom Erdbeben betroffenen Regionen nach wie vor. Vor allem in Gölcük und Yalova, auf der Istanbul gegenüberliegenden Seite des Marmarameeres, spielen sich kaum vorstellbare Tragödien ab. In Gölcük sollen noch mindestens 5.000 Menschen unter den Trümmern begraben sein. Den Bergungsmannschaften fehlt es vor allem an schwerem Gerät. In Gölcük sollen ganze drei Kräne im Einsatz sein. Angesichts tausender zusammengestürzter Häuser sind die Chancen der Verschütteten, noch gerettet zu werden, gering.

Mit zunehmender Empörung reagieren viele Türken auf den zurückhaltenden Einsatz der Armee bei den Rettungsarbeiten. Zwar sind überall auch Soldaten im Einsatz, doch von der geballten Stärke der zweitgrößten Armee der Nato, die 500.000 Mann unter Waffen hat, ist wenig zu sehen. Bislang hat es die Armee noch nicht einmal geschafft, die in Gölcük zertrümmerte Marineakademie freizuschaufeln. Und das obwohl unter den Trümmern noch 190 Offiziere begraben liegen.

Erst langsam dringt das ganze Ausmaß des Desasters in das Bewusstsein der Bevölkerung und wohl auch der Politiker. Die Fernsehsender sprachen gestern von mindestens 7.000 Toten und schwindenden Rettungschancen für die rund 30.000 noch Verschütteten. Bei Temperaturen zwischen 35 und 40 Grad, beginnen die Leichen bereits zu verwesen – es droht Seuchengefahr. In der am schwersten betroffenen Industriestadt Izmit hat man die Leichen in einer Eissporthalle gestapelt um sie identifizieren zu können, doch der Platz reicht nicht aus. Deshalb sollen die Toten jetzt fotografiert und dann gleich begraben werden.

Die türkische Regierung hat endlich beschlossen, an den Katastrophenorten große Zeltstädte zu errichten, die dann einfacher mit Wasser, Lebensmitteln und Elektrizität versorgt werden können. Der Standesverband der Ingenieure und Architekten (TMMOB) beklagt, dass aus vorangegangenen Erdbeben keine Konsequenzen gezogen worden seien. Es scheint, als hätten die Verantwortlichen gedacht, Erdbeben könnten sich nur in der Osttürkei abspielen, obwohl 96 Prozent des Landes in der Zone hohen Risikos liegen. Darüber hinaus rächt sich jetzt, dass bei vielen Bauten geschlampt wurde. Die Marmararegion, einschließlich Istanbul hat die höchste Zahl inländischer Migranten. Die durch den Krieg im Südosten vertrieben Bauern landen hier – zumeist in Häusern, bei deren Bau Vorschriften ignoriert wurden.

Aber es trifft nicht nur die Armen. In Yalova, wo viele Einwohner Istanbuls ihre Sommerhäuser haben, wurde der Inhaber einer Baufirma, von deren Ferienhäusern 90 Prozent zusammengebrochen sind, fast gelyncht. Er konnte fliehen und die aufgebrachten Bewohner mussten sich damit zufrieden geben, sein Auto abzufackeln.

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