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Demontage an den Rändern

■ Da darf sich die Performance freuen: Die zweite Sommerakademie in Frankfurt/Main registriert eine Rückeroberung der Gegenwart und bescheinigt ihr Internet-Qualitäten

Es gibt zwei Gerüchte, die das Theater hartnäckig über sich verbreitet. Zum einen, dass es im Vollzug von Kommunikation zwischen Bühne und Publikum entstehe, und zum anderen, dass diese Live-Qualität im Theater alles möglich und trotz allabendlicher Wiederholung nichts vorhersehbar mache. Leider strafen 90 Prozent aller Theaterbesuche diese Definition Lügen. Der geteilte Augenblick ist ein Potential, das das Medium vor anderen Kunstformen auszeichnet, aber keine konkrete Qualität. Weshalb viele junge Menschen seit geraumer Zeit auch gar nichts mehr mit dem Theater teilen wollen, keinen Augenblick und erst recht nichts mehr von ihrer kostbaren Zeit.

Dabei handelt es sich nicht um einen Generationenkonflikt, sondern um ein viel tiefgreifenderes Missverständnis. Denn das, was gemeinhin gemeint ist, wenn von Theater gesprochen wird, ist nicht das Theater, sondern seine institutionalisierte Form, wie sie sich vor grob 200 Jahren herausgebildet hat. Man sollte meinen, dass die Dekonstruktion der Subjektphilosophie im 20. Jahrhundert ihre Entsprechung in der flächendeckenden Demontage klassischer Theaterformen findet. Doch diese Demontage geschieht nur an den Rändern. Dort, wo nicht Literaturtheater der Gesellschaft einen Spiegel vorhalten will und die Zeit verdichten, sondern wo mit hybriden Formen Gegenwart zurückerobert wird.

„Zeit als Form/Performance-Zeit“ lautet der Titel der zweiten Internationalen Sommerakademie in Frankfurt am Main, zu der bis zum Ende des Monats Protagonisten des europäischen Theater/Performance-Bereichs und der Kulturwissenschaften in das Künstlerhaus Mousonturm geladen wurden. Die Akademie ist eine konzertierte Initiative des Spielorts mit dem Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft der Goethe-Universität. Gemeinsam mit Theaterinstituten aus Kopenhagen, dem norwegischen Bergen, Gent und Bologna wird an einem Netzwerk gebastelt, das nicht allein auf Gastspielaustausch basiert. Die Grundidee ist vielmehr eine kreative Zusammenführung von Reflexion und Praxis, die sich sowohl auf die Lehrpläne der Unis als auch auf die Spielpläne der Theater auswirken soll.

Mit dem Angebot aus Performances, Vorträgen, Panels und Workshops reagiere man auf einen wachsenden Reflexionsbedarf in der Szene, so die künstlerische Leiterin des Mousonturms, Christine Peters. Kulturderzernent Hans-Bernhard Nordhoff ergänzt, die Akademie trage der reflexiven Dimension zeitgenössischer Kunst Rechnung. Deshalb freut er sich auch besonders über die 120.000 Mark aus dem Kaleidoskop-Programm der Europäischen Kommission. Endlich einmal würden EU-Gelder in ein Potential investiert, das europäische Identität ausmachen kann.

Ob dem Dezernenten alle Vorschläge gefallen würden, die die netzwilligen Europäer hier austauschen, sei dahingestellt. Die Akademie stellt ein eng umzirkeltes Thema ins Zentrum eines breiten Diskutantenkreises, der von Opernregieassistenten über die Videoperformance-Künstlerin Marina Abramovic bis zum Ex-Hacker und Internetkritiker Geert Lovink reicht. Auf der staatstheaterabgewandten Seite der Produktion wird über Synergieeffekte nach aktuellen subversiven künstlerischen Strategien gesucht. Dabei muss das Theater gar nicht neu erfunden werden – statt von dem institutionellen Theaterbegriff wird lediglich von der antiken Praxis des Theaters als medientechnischer Versuchsanordnung ausgegangen. Begreift man Theater nicht in Konkurrenz zu Film und Computer, sondern behauptet seine integrativen Fähigkeiten, eröffnet sich eine überraschende Parallele: In seiner Performanz, d. h. der Herstellung von Präsenz-Impulsen, in Momenten geglückter gemeinsamer Jetzt-Zeit-Erfahrung ist das Theater der Online-Kommunikation näher, als alle anderen Künste es je seien können.

Unser Reden von der Zeit ist bestimmt von Verlustrhetorik und, wider bessere Ahnung, linearer Vorstellung. Ihrer oft beklagten Beschleunigung wird in aktuellen Performances mit medialen Strategien der Langsamkeit (Marthaler) oder mit abrupten Tempiwechseln begegnet, die zwischen Videoclip und Fußnägel-Lackieren changieren und dabei stets auch das Verhältnis von Spiel und außertheatralischer Wirklichkeit in Frage stellen (Gob Squad). Figuren müssen nicht mehr verkörpert, Zeit nicht mehr verdichtet oder im Ablauf gezeigt werden. Statt Nachahmung selbstreflexive und ironische Untersuchung. Theater, beschreibt es der Frankfurter Theaterwissenschaftler Hans-Thies Lehmann, ist Erinnerung, die noch aussteht. Christiane Kühl ‚/B‘Nächste Performance: 21. bis 22. 8., 21 Uhr: Caterina Sagna (I), „Esercizi Spirituali u. a.“,Künstlerhaus Mousonturm, Frankfurt/Main

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