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„Eine Melodie! Das war eine Melodie!“

■ Erfolglose Experimente mit dem Musikprofessor

Sie kennen ja die Geschichte von Dr. Jekyll und Mr. Hyde. Ganz ähnlich verhält es sich mit unserem Musikprofessor (der übrigens nicht von Beruf Musikprofessor ist, sondern wohl eher wegen eines genetischen Defekts).

Einerseits gehört er zur Gattung der liebenswerten Mitgeschöpfe. Er ist die Sorte Freund, die man anruft, wenn man mal wieder von einer großen Seelentristesse gebeutelt wird. Doch wehe, wenn Musik an sein Ohr dringt! Schon wenige Takte eines Top-Ten-Hits genügen, um ihn in ein Monster zu verwandeln. In Sekundenbruchteilen werden seine Hände zu Klauen, und während seine Augen wie zwei Nebelschlussleuchten funkeln, stößt er ein Geheul aus, das auch der Hund von Baskerville nicht eindrucksvoller hingekriegt hätte.

Ich habe miterlebt, wie er einen Gummibaum entlaubte, weil ein Cabriofahrer unten auf der Straße Mariah Carey mit 200 Watt zu uns heraufjammern ließ, und ich bin mir ganz sicher, dass er, wenn man ihn zwänge, einen Phil-Collins-Song vollständig anzuhören, vorzeitig über den Jordan setzen würde. So ehrenvoll es aber ist, den scheußlichsten Zumutungen der Popkultur mit leidenschaftlichen Unmutsäußerungen zu begegnen, so sehr befremdet es, dass seine Reaktionen auf Stücke, die unsereiner für unanfechtbar gute Musik hält, kaum milder ausfallen. Ich habe viele Experimente gemacht.

Doch was ich ihm auch vorspielte – das Ergebnis war immer das gleiche: Bestimmt zwanzigmal ist meine Biographie schon wie ein Film vor meinen Augen vorbeigezogen, und jedesmal lag das daran, dass die Pranken des Monsters sich um meinen Hals gelegt hatten, um mir den Hahn zuzudrehen.

Stets war ich deshalb heilfroh, die Fernbedienung sicherheitshalber in der Hand behalten zu haben. Bricht nämlich die Musik ab, setzt schlagartig auch die Rückverwandlung des Musikprofessors ein. Schon eine Sekunde später ist er das friedlichste Wesen der Welt, blinzelt verdattert ins Licht und fragt einen, warum man ihn denn so entsetzt ankucke.

Nur einmal, als ich ein Stück von Frank Zappa ablaufen ließ, gab es einen Hoffnungsschimmer. „Pass auf, pass auf! Didijuäfra-sss-yek!“ erklärte er mir die schönsten Stellen, während ich es kaum fassen konnte, dass ich nicht schon wieder meiner eigenen Einschulung zusehen musste. Doch keine zwei Minuten später war es damit vorbei. „Ha! Eine Melodie! Das war eine Melodie!“ keuchte er, obwohl höchstens drei harmonische Töne aufeinandergefolgt waren, und dann war sie doch wieder da, die Einschulung.

Fest steht, dass der Musikprofessor jede Komposition für ein Verbrechen hält, die nicht mindestens so komplex ist wie ein Nukleinsäuremolekül. Ist man bei ihm zu Besuch, pflegt er CDs aufzulegen, die sich so anhören, als ob das Posaunenseptett von Jericho eine Generalprobe mit verstimmten Instrumenten macht, und deshalb ist es in puncto Lärmbelästigung ein deutlicher Fortschritt, dass seine neueste Leidenschaft den Auslaufrillen alter Vinylplatten gilt, deren „Sst-tt-klk“ er gerne als genialischste Meisterleistung der Musikgeschichte bezeichnet.

In seinem Buch „New York City“ berichtet Michael Schulte davon, dass der große John Cage keinen Plattenspieler, kein Radio und keinen Cassettenrecorder besaß. „Wozu?“ sagte er. „Da draußen ist Sixth Avenue.“ Er fand Beethoven langweilig und war vernarrt in den Lärm des Verkehrs, und deshalb ist es wirklich sehr schade, dass er vor wenigen Jahren gestorben ist.

Denn gerne hätte ich dem Musikprofessor mal eine Reise über den Atlantik finanziert, nur um zusehen zu dürfen, wie er und der Meister sich auf zwei Campingstühlen an einer belebten Kreuzung niederlassen und zungenschnalzend dem phänomenalen Motorenkonzert zuhören.

Joachim Schulz

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