Der Revolutionär und sein Dorf

Wen man nicht mehr sieht, der kann auch nicht stören. In einem Örtchen in Südthüringen steht noch, was andere Gemeinden im Osten zehn Jahre nach der Wende längst entsorgt haben – ein Lenin-Denkmal  ■   Aus Hellingen Annett Müller

„Was sollten wir uns auch über die Rolle Lenins in der Geschichte streiten? Die fällt bei uns nicht ins Gewicht.“

Was ist das bloß für ein Dorf? Es hat zwei Kneipen und einen Konsum. Dazwischen Hauptstraße. Übersichtlicher geht es kaum. Ein Tag gleicht dem anderen. Oder unterscheidet sich dadurch, dass man heute rechts von der Hauptstraße und morgen links davon spazieren geht. Hellingen, das Dorf in Thüringen, ist eben so wie andere Orte. Es ist die Regel.

Und doch ist es die Ausnahme.

Inmitten des Gemeindeparks steht ein Denkmal von Wladimir Iljitsch Lenin. Ein dreiteiliger Betonklotz, der nicht gerade viel vom kommunistischen Revolutionsführer zeigt. Nur sein Kopf ist im Profil zu sehen. Links davon gibt es einen versteinerten Lorbeerkranz. Rechts steht in Großbuchstaben „LERNEN, LERNEN NOCHMALS LERNEN“.

Andernorts sind die Lenin-Denkmäler längst verschwunden. Dresden verkaufte es gleich nach der Wende an einen Schwaben. Merseburg stellte sein Denkmal auf einem nahe gelegenen Militärflugplatz ab. Berlin entsorgte unter Protesten seine Statue aus dem Stadtteil Friedrichshain. Doch Hellingen tat nichts dergleichen. Zehn Jahre blieb es ruhig um Lenin. Damit war es im Januar vor-bei. Eine bayerische Journalistin vom Coburger Tageblatt stellte das Denkmal in Frage. Warum haben die ihren Lenin eigentlich immer noch?

Im Dorf ist man sprachlos. Robert Beyer aber muss antworten. Er ist der Bürgermeister zu jener Zeit. „Ich wollte unser Dorf nicht in eine politische Ecke drücken lassen.“ Er habe an Bayern gedacht und an den Solidarzuschlag für den Osten. Er wollte irgendwie die gesamte politische Lage in diesem Moment berücksichtigen. Doch immer schön locker bleiben, denkt sich der parteilose Politiker und scherzt: „Wenn es jemand haben will, kann er es bekommen.“ Beyer hatte zu viel geredet.

Wenig später meldeten sich mehr als ein Dutzend Sammler und Geschäftsleute aus Ost und West in der Gemeindeverwaltung. Sie alle wollten Lenin. Ein Leipziger Interessent hatte bereits einen Tieflader bestellt. Der Chef eines Autohauses in Probstzella wollte das Denkmal für sein Firmengrundstück. Plötzlich hatten die Hellinger zu entscheiden: Wollen sie den Lenin oder nicht? Und wer keinen Grund sieht, ihn zu verschenken, muss erklären, warum er bleiben soll.

„Wir dachten doch nicht, dass jemand an dem Stein mal rüttelt“, sagt Lehrerin Helga Schmidt. All die Jahre ist sie wie die anderen Hellinger an „ihm vorbeigegangen. Wir wissen, der steht im Park. Der tut uns nichts, und wir tun ihm nichts.“ Helga Schmidt sitzt im Lehrerzimmer. Vor ihr liegen Fotos aus DDR-Zeiten. Sie zeigen Hellingen am 22. April des Jahres 1970. Im Gemeindepark drängelt sich das ganze Dorf, Pioniere, Lehrer natürlich, NVA-Soldaten, Bauern von der LPG und die Partei. Sie weihen das Lenin-Denkmal ein. Helga Schmidt erzählt: „Dieser Tag war eine Sensation. Solch ein Denkmal gab es in keinem anderen Nachbardorf.“

1970 feiert die Deutsche Demokratische Republik kollektiv Lenins Hundertsten. Die Schulen des Landes sind zum Üblichen verpflichtet: zu Festappellen, Wandzeitungen und zu noch besseren Leistungen. Der Schule in Hellingen fällt mehr ein. Sie will Lenin zum Geburtstag ein Denkmal setzen. Mit diesem Namen hat man nichts „falsch machen können“, sagt Helga Schmidt. Bei der Partei und auch sonst nicht. „Schließlich war Lenin der Führer der Oktoberrevolution. Das hat früher einfach jedes Kind gewusst.“

Die SED-Funktionäre in Thüringen sind hingegen verblüfft, als sie von Hellingens Plan hören. „Lenin war die Gottessäule unseres sowjetischen Bruderlandes. Ihm ein Denkmal zu setzen war schon eine andere Nummer als beispielsweise Ernst Thälmann. Der war schließlich einer von uns“, erinnert sich ein früherer Mitarbeiter der SED-Kreisleitung. Doch die Schule in Hellingen lässt nicht locker. Die SED-Kreisleitung kann statt zu agitieren nur noch reagieren. Sie leitet den Wunsch des Volkes ans SED-Politbüro, denn das allein entscheidet, wer in der DDR welches Denkmal bekommt. Als die Obersten zustimmen, steht Hellingen ganz groß da. Das Dorf kann plötzlich sagen, es bekommt ebenso wie Ostberlin ein Lenin-Denkmal zum Hundertsten. Die Hauptstadt erhält eine 19 Meter hohe Statue. Für Hellingen gibt es ein Denkmal im dörflichen Maßstab. Zwei Meter hoch, vier breit.

Hellingen im Sozialismus. Ein Ort, der im Sperrgebiet lag und damit, wie es im Dorf heißt, „am Arsch der Welt“. Einmal im Jahr, am Pioniergeburtstag, steht Lenin im Mittelpunkt. An diesem Tag wären sie „immer schön zum Denkmal marschiert“, erzählt Helga Schmidt. „Das konnten die Kinder bestens. Wir haben sie nicht gezwungen.“ Ein Tag schulfrei und statt dessen Fahnenappell, sozialistische Grußworte und Blumen für Lenin. Am Nachmittag im Gemeindesaal für alle Kaffee und Kuchen. „Da haben wir gemütlich zusammen gesessen“, sagt Schmidt. Auf solche Anlässe hätten die Kinder gefiebert, die Lehrer ebenso. „So war eben unsere Geschichte, die haben wir einwandfrei gelebt. Die kann man nicht einfach vergessen. Also, warum sollen wir das Denkmal abbauen?“, fragt sich Lehrerin Schmidt.

Bei anderen Dingen haben die Hellinger nach der Wende nicht gezögert. Ein übergroßes Bild von Marx, Engels und Lenin wurde aus der Schule entfernt. Der Schulname „Friedrich Wolf“ ward ausgewechselt. Das Lenin-Denkmal aber blieb. Warum beantwortet man in Hellingen mit „Warum nicht?“. Niemand weiß es so recht. Jedoch wissen alle, wie das Denkmal entstand. Schüler machten die Entwürfe. Andere sammelten Altstoffe und Schrott, um das Denkmal zu finanzieren. Gemeinsam haben sie sich Lenin geschaffen. Da sollten die Hellinger ihn hergeben? Wo sie doch so für ihn gekämpft haben? Und wo sie sich an ihn gewöhnt haben? So sehr, dass sie ihn „schon gar nicht mehr sehen“. Und wen man nicht mehr sieht, der stört auch nicht. Alles ist so friedlich in Hellingen, einem Dorf mit einer Kirche, 500 Einwohnern und nicht ganz so vielen Gartenzwergen. Wer hier die Hauptstraße zum zweiten Mal entlang läuft, wird gefragt, wohin er will. Und mitten im Gemeindepark steht Lenin im knöchelhohen Gras, umringt von Bäumen. „Ein bisschen versteckt und gar nicht mehr so im Mittelpunkt“, wie Helga Schmidt sagt. „Oder ist er Ihnen gleich aufgefallen?“

Otto Oppel sieht das Denkmal schon längst nicht mehr. Anders hat er es nicht abschaffen können – was er wollte. Als die Schule das Denkmal plante, war Oppel Bürgermeister von Hellingen. „Ich hab mich immer gefragt, was haben wir für Beziehungen zu Lenin? Doch gar keine.“ Die Frage hat er nie öffentlich gestellt, „schließlich wollte ich es mir mit den Lehrern nicht verderben und auch nicht mit der Partei. Man musste ja vorsichtig sein.“ Ein Mann, der mit Worten geizt, wenn es ums Denkmal geht. Bei anderen Dorfgeschichten kommt er ins Reden: „Die Partei hat mich oft gefragt, Sie haben Baumaterial fürs Dorf gekauft, doch nicht einen Stundenlohn abgerechnet. Wer hat denn die Arbeit gemacht? Da konnte ich immer sagen: Meine Leute.“ So haben die Hellinger ihren Tanzsaal renoviert oder die Schule und alles nach Feierabend. Sie bauten sich „ihr Nest“, und die Partei hatte ein Vorzeigedorf, das sie auszeichnete. Die Urkunden hat Otto Oppel alle aufgehoben.

Das Lenin-Denkmal jedoch wollte er nach der Wende begraben. Die Großstädte machten es schließlich vor, argumentierte er damals. Seinem Nachfolger Robert Beyer riet er, „das Ding“ auf einen Traktor zu laden. „Ich wusste schon einen Ort, wo wir den Stein hätten hinkippen können. Ein Jahr später wäre das Denkmal nicht mehr zu sehen gewesen.“ Beyer aber sagte, der Stein störe ihn nicht, und hatte damit ein ganzes Dorf hinter sich. Es gab andere Sorgen. Aus der LPG wurde nach der Wende eine Aktiengesellschaft, die zwei Drittel der Bauern entließ. Betriebe schlossen. Und so suchten sich die Hellinger Arbeit im benachbarten Bayern – die Woche über. Wer dachte da schon an Lenins Zukunft?

„So war eben unsere Geschichte, die haben wir einwandfrei gelebt. Die kann man nicht einfach vergessen.“

Die bayerischen Nachbarn hätten sich auch nicht über das Denkmal gewundert, sagt Robert Beyer. Am 3. Oktober 1990, Beyer ist gerade Bürgermeister in Hellingen, feiert das Dorf mit seinen Westnachbarn die deutsche Einheit. Im Gemeindepark wird eine Eiche gepflanzt. Lenin steht versteinert daneben. Ein bayerischer Festredner habe gescherzt, „jetzt kann Lenin gleich mal sehen, was er so alles angerichtet hat“, sagt Beyer. Zig Gäste aus dem Westen hörten damals zu. „Da war bestimmt so mancher CSU-Freund darunter.“ Nicht einer hätte erklärt, „Lenin muss weg“. Beyer könnte auch sagen, die früheren Klassenfeinde haben mir die Kraft gegeben, Lenin nicht in Frage zu stellen.

All die Jahre hatte das Denkmal seinen Frieden. Natürlich, ab und an kamen Fremde ins Dorf. Sie sahen den Revolutionär, sie machten Fotos. Oder manchmal sogar einen Gipsabdruck von Lenins Relief. Das war dann Dorfgespräch. Die Fremden kamen und gingen, doch Lenin blieb. Auch zehn Jahre nach der Wende. Bis Robert Beyer scherzte, man würde das Denkmal auch hergeben, wenn es denn jemand will. „Das war doch nur ein Versprecher“, sagt Beyer heute. Weil dieser so öffentlich geschieht, muss das Dorf sich auch öffentlich positionieren. Nicht dass die Hellinger nun diskutiert hätten. „Was sollten wir uns auch über die Rolle Lenins in der Geschichte streiten? Die fällt bei uns nicht ins Gewicht“, sagt Beyer.

Anfang Januar tagte in Hellingen der Gemeinderat, um über den Lenin abzustimmen. Eine kurze Sitzung. CDU, SPD, Freie Wähler und Frauenbund haben anschließend ein und die selbe Meinung: Das Denkmal bleibt, denn es ist Dorfgeschichte. Auch sei Lenins Spruch „Lernen, lernen, nochmals lernen“ heute noch aktuell. „Früher haben wir ja immer als Gegenspruch gesagt: Wissen ist Macht, und nichts wissen macht nichts. Damit kommt man in der Marktwirtschaft nicht mehr weit“, sagt Robert Beyer.

In Hellingen ist es wieder friedlich. Im Gemeindepark stehen sich die Eiche der deutschen Einheit und der Lenin der dörflichen Vergangenheit gegenüber. Das ist beschlossene Sache. „Wenn es im nächsten Jahr andere Meinungen zum Denkmal gibt, muss neu verhandelt werden“, sagt Robert Beyer. Doch darüber spricht im Dorf niemand. Dort gibt es den alten Klatsch, den alten Tratsch und manchmal ein Gerücht. Eben wie jenes über den Lenin dort im Park.