: „Ich arbeite lieber mit Menschen“
■ Die Kunst der Choreografie liegt darin, zu wissen, wie man nicht zusammenstößt. Ein Gespräch mit Merce Cunningham über den Zufall und den Einsatz von Kameras und Computeranimationen in seinen Stücken: Wie man die Möglichkeiten des regulierten Spiels erweitert
Der 1919 in Centralia, Washington, geborene Tänzer und Choreograf Merce Cunningham gilt als einer der bedeutendsten Neuerer des modernen Tanzes. Durch die Bekanntschaft mit dem Komponisten John Cage, seinem späteren Lebensgefährten, entwickelte sich Cunningham zu dem Choreografen der musikalischen Avantgarde. Seine Verwendung von Zufallsverfahren, die vollständige Trennung der einzelnen Elemente einer Aufführung, der Einsatz von Kameras und später von Computertechnologien zählen zu Cunninghams wegweisenden Innovationen. Im Rahmen des Internationalen Tanzfestes Berlin ist die Merce Cunningham Dance Company zum ersten Mal seit 1993 wieder zu Gast in Berlin. Ihr Programm umfasst drei junge Stücke: „CRWDSPCR“ („Crowdspacer“) von 1993 mit Musik von John King, „Rondo“ von 1996 nach Musik von John Cage und das computeranimationsunterstützte „Biped“ mit Musik von Gavin Bryars.
taz: Mister Cunningham, Sie verwenden in ihren Choreografien oft Zufallsoperationen. Kann es da nicht passieren, dass die Tänzer auf der Bühne zufällig kollidieren?
Merce Cunningham: Ich verwende Zufallsoperationen nur in der Choreografie selbst. Die Reihenfolge der einzelnen Teile der Stücke ist variabel, und sie wird für jede Aufführung mittels Zufall neu ermittelt. Beim Tanzen ist das zu kompliziert. John Cage hat einmal gesagt, die Kunst der Choreografie läge darin, zu wissen, wie man nicht zusammenstößt. Das heißt, die Bewegungen der Tänzer sind festgelegt. Die Tänzer selbst können Bewegungsabläufe kaum variieren.
Die abrupten Tempowechsel ihrer Stücke wurden wiederholt mit den Abläufen eines Fußball- oder eines American-Football-Spiels verglichen. Ist dieses Bild für Sie von Relevanz?
Nicht besonders. Ich glaube, diese Parallele entsteht dadurch, dass meine Arbeiten immer das Unerwartete bereit halten. Den Zuschauern fehlt oft die Kontinuität, so dass man durchaus denken könnte, es handele sich um ein Spiel, denn ein Spiel ist ja voll von unerwarteten Veränderungen. Die Regeln eines Spiels sind vorgegeben, innerhalb dieser Regeln entwickeln sich die einzelnen Züge. In meinen Stücken fixiere ich Bewegungen auf ähnliche Weise, aber auf Grund der Zufallsoperationen und der eingesetzten Technologie ergeben sich ganz andere Möglichkeiten als in einem Spiel.
Ihren Stücken fehlt stets das Narrative oder ein Stoff. Und Sie haben wiederholt darauf hingewiesen, dass Tanz nichts anderes bedeutet als eben Tanz. In den vergangenen Jahren haben Sie stets neue Medien in die Produktion einbezogen: erst die Kamera und seit 1991 den Computer. Hat das tänzerische Konzept dadurch eine neue Dimension bekommen, oder hat sich die Bewegung des Körpers dem Medium gebeugt?
Für mich steht das Ausschöpfen tänzerischer Möglichkeiten im Vordergrund. Was ich in der Technologie zu hoffen finde, ist eine neue Perspektive, einen neuen Blick auf Details. Diese Details in den Bewegungsabläufen waren schon immer da, aber es gab eben nicht die Ausrüstung, um sie wahrzunehmen, geschweige denn mit ihnen zu arbeiten.
Aber Sie verändern durch die Verwendung neuer Medien auch den Modus der Darstellung, wenn nicht aus Sicht der Tänzer, so doch aus Sicht der Zuschauer.
Ich glaube nicht, dass die eine Darstellungsweise besser ist als die andere. Sie sind einfach voneinander verschieden: Die Bühne ist eine Sache, der Blick durch die Kamera eine andere. Die Entwicklung der Arbeit mit den Computern verläuft ganz ähnlich.
Worum genau handelt es sich bei der Computertechnik, die für „Biped“ eingesetzt wird?
Shelley Eshkar und Paul Kaiser haben ein Programm entwickelt, das die Bewegungen der Tänzer mittels am Körper angebrachter Infrarotsensoren aufnimmt. Wir haben dann verschiedene meiner Phrasen aufgezeichnet. Auf dem Bildschirm sahen die Aufnahmen erst einmal aus wie tanzende Weihnachtsbäume, denn es sind nur die sich bewegenden Aufnahmepunkte zu sehen, die erst nachträglich mit handgezeichneten Figuren umgeben werden. Diese Figuren erscheinen bei „Biped“ als Projektionen auf der Bühne.
Hat man als Nächstes einen computeranimierten Tanzfilm von Merce Cunningham zu erwarten?
Noch nicht. Ich arbeite immer noch lieber mit Menschen und mit Körpern. Außerdem halte ich die Technologie immer noch für zu begrenzt. Es könnte sein, dass ich mich auf eine solche Arbeit in der Zukunft einmal einlasse. Aber im Moment benutze ich die Technik nur, um mir meine Augen öffnen zu lassen.
Sie haben seit Anbeginn Ihrer choreografischen Tätigkeit großen Wert auf die vollständige Trennung von Musik, Kostümen, Licht und Choreografie gelegt. Alle Elemente entstanden weitgehend unabhängig voneinander. Für das 1996 entstandene Stück „Rondo“ verwenden Sie allerdings ein Stück von John Cage, das vor der Arbeit an der Choreografie geschrieben wurde.
Das Stück von John Cage, das wir für „Rondo“ verwenden, ist eins seiner letzten Stücke. Es ist eins seiner Nummernstücke, die den Ausführenden ein hohes Maß an Flexibilität erlauben. Das betrifft die Besetzung, was sie spielen und wie sie es spielen, so dass es doch bei jeder Aufführung ein anderes Stück ist.
Gab es nicht dennoch jemals das Verlangen, ein bereits existierendes Stück Musik zu verwenden? Oder hat es in diesem Zusammenhang nicht auch Enttäuschungen gegeben, indem die Musik dann so gar nicht zur Choreografie passen wollte?
Es ist immer ein großes Risiko. Aber lieber gehe ich dieses Risiko ein, als dass ich es anders mache.
Interview: Björn Gottstein
The Merce Cunningham Dance Company: heute und morgen ab 21 Uhr im Schiller Theater, Bismarckstr. 110, Charlottenburg
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