piwik no script img

Erst beschließen und hinterher bedauern

■ Der Beschluss zur Schließung des Innenstadtrings vernichtet zahlreiche Arbeitsplätze

Kyon ist Künstler. Er macht Hörspiele und strickt nebenher Pullover, um über die Runden zu kommen. Im Gewerbehof Chausseestraße 34/35 in Mitte hat er den perfekten Ort zum Arbeiten gefunden, in diesen Ort ist er „verliebt, es ist ein richtiges Biotop“, sagt er.

Doch Kyon und die rund 300 anderen im Haus Ansässigen sollen nun aus diesem Biotop vertrieben werden. Denn der Gewerbehof steht genau an der Stelle, an der das noch fehlende Stück des Berliner Innenstadtrings verlaufen soll. Auf einem Hoffest am Samstag haben die Betroffenen deshalb erneut auf ihre Situation aufmerksam gemacht.

Die Verbindung zwischen Invalidenstraße und Bernauer Straße soll über den Nordbahnhof hinweg über die Habersaathstraße führen. Deren Verlängerung zur Invalidenstraße ist allerdings unmöglich, weil sich hier das Bundesverkehrsministerium quer stellt – der Neubau steht direkt am Ende der Habersaathstraße. So soll der Blechlawine deshalb über die schmale Scharnhorststraße und in die Gegenrichtung über den noch schmaleren Schwarzen Weg der Weg geebnet werden.

Doch nicht nur Gewerbetreibende wie Kyon, sondern auch die anderen Anwohner wollen sich damit nicht zufrieden geben. Zwar hat ihnen der Wirtschaftssenator in der Vergangenheit bereits Ausweichmöglichkeiten angeboten. Die allerdings, so die Kritik der Initiative, seien sowohl zu teuer als auch zu weit vom bisherigen Standort entfernt. „Viele Selbstständige aus der Chausseestraße 34/35 könnten sich dann nicht mehr über Wasser halten“ sagt Winfrit Wagner von der Initiative.

Wirtschaftsstaatssekretär Detlef Orwat will davon allerdings nichts wissen. In einem Schreiben wiegelt er ab und sagt, dass durch den Straßendurchbruch „nur ein Teil der Bausubstanz betroffen“ wäre. Außerdem würden die Betroffenen ja wissen, dass er sich „in außerordentlicher Weise für den Erhalt und die Förderung von Unternehmen“ einsetze. Das ärgert nicht nur die Betroffenen, sondern auch Michael Cramer, den verkehrspolitischen Sprecher der Bündnisgrünen. Es sei „nicht zu verstehen, wenn woanders Millionen für ein paar hundert Arbeitsplätze investiert werden und auf der anderen Seite welche unnötigerweise vernichtet“ würden.

Cramers Fraktion unterstützt die Interessen der Anwohner, kann dabei aber genauso wenig helfen wie andere Politiker, die sich gegen die geplante Straßenführung ausgesprochen haben. Schließlich haben die Senatoren erst nach ihrem Beschluss von der Existenz des Gewerbehofs erfahren. Und da war es angeblich zu spät. Bedauern und die Schuld von sich weisen heißt deshalb nicht nur die Devise der CDU, sondern auch für Christian Gaebler, den verkehrspolitischen Sprecher der SPD. Auf einer Podiumsdiskussion im Juni ließ sich Gaebler sogar zu dem Satz hinreißen: „Wenn die CDU dagegen wäre, würden wir auch dagegen stimmen.“

Susanne Klingner

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen