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Last Exit Landsberger Allee

taz-Serie „Grenzstadt Berlin“ (Teil 4): Noch immer wird die Hauptstadt aus der Perspektive des Zentrums wahrgenommen. Einige Grenzgänger wagen aber schon den Blickwechsel auf die immer näher rückende Peripherie  ■ Von Uwe Rada

Wohnen im Zentrum“ verspricht die Kleinanzeige und preist eine Dachgeschosswohnung in der Ebertystraße in Berlin-Friedrichshain, 90 Quadratmeter, 1.400 Mark Miete zuzüglich Nebenkosten. Im Ostberliner Gründerzeitbezirk, keine zwei Kilometer vom Alexanderplatz entfernt, lassen sich im modernisierten Altbau ebenso hohe Mieten erzielen wie in anderen „Zentrumslagen“, etwa in Prenzlauer Berg.

Biegt man von der Ebertystraße auf die Landsberger Allee, erreicht man schon nach zehn Minuten eine grüne Wiese, auf der eine riesige Werbetafel steht. „Warum weiterfahren?“, wird der motorisierte Städter angesprochen. „Mieten sie hier! Für 9 Mark pro Quadratmeter!“ Auch der Stadtrand hat seinen Standort. Nur wirbt man hier nicht mit Zentrumslagen, sondern kostengünstigen Preisen. Mit Erfolg. Weit über 2,3 Millionen Berliner leben mittlerweile nicht mehr drinnen im Zentrum, sondern draußen, im Siedlungs-, Gewerbe- und Dienstleistungsteppich der Randstadt. Dazu kommen noch die 70.000 Berliner pro Jahr, die der Hauptstadt ganz den Rücken kehren und ins Brandenburger Umland ziehen. Da stellt sich schon die Frage: Was ist eigentlich Zentrum, und wo liegt die Peripherie?

Vor nicht einmal zehn Jahren war in Berlin die Welt der Stadtplaner noch in Ordnung. Immerhin teilte die Mauer die Stadt nicht nur in Ost und West, sondern sorgte auch dafür, dass die räumliche Grenze der Stadt diesen Namen tatsächlich verdiente, dass der dichte, wenn auch polyzentrische Stadtraum im Innern deutlich vom dünn besiedelten Umland unterscheidbar war. Der Umstand, dass die Suburbanisierung in Westberlin an der Mauer ihre künstlichen Grenzen fand und im Osten eher eine Flucht in die Stadt als aus ihr heraus stattfand, hatte aber noch eine andere Folge: Sowohl in den Gründerzeitquartieren als auch den Randlagen der Stadt war eine weitaus weniger ausgeprägte Verteilung sozialer Unterschiede im Raum vorhanden als in anderen Großstädten. Berlin war, unter den räumlichen Begrenzungen der Teilung, eine sozial gemischte, kompakte Stadt, ein geradezu liebenswerter Dinosaurier aus jenen Zeiten städtischer Entwicklung, als neue Technologien, Individualisierung der Lebensstile und das Haus im Grünen noch nicht vom Ende der Urbanität und der Auflösung der Stadt kündeten.

Hier ein Einkaufszentrum, dort ein Parkplatz, dazwischen Straßenschneisen, Brücken, Schienenstränge. Die Landsberger Allee, die den Zentrumsbezirk Friedrichshain mit den östlichen Randbezirken Lichtenberg, Marzahn und Hellersdorf sowie den peripheren Gemeinden Eiche und Hönow verbindet, ist gerade in ihrer unverhüllt zur Schau gestellten Absage an alles Urbane eine der aufregendsten Magistralen der Hauptstadt. Nicht Stadt, nicht Land, nicht Zentrum und bloße Peripherie, findet sich auf der ehemaligen Leninallee dennoch alles, was die Städter brauchen. Halb Highway, halb Datenautobahn, wandern die Zentrumsfunktionen der Stadt auf dem Verbindungsstrang der Landsberger Allee in Richtung Peripherie: in die modern ausgestatteten Büroräume an den Kreuzungspunkten, in Gewerbeparks, postmoderne Geschossbauten und die Erlebniswelt der Fitnessstudios und Themenparks.

Und parallel dazu bringt die Landsberger Allee die Peripherie ins Zentrum – in Gestalt wachsender Leerstände und Industriebrachen, des Ladensterbens und sozialer „Problemgebiete“ infolge zunehmender Randwanderung. Zehn Jahre nach dem Fall der Mauer stehen die Nachlassverwalter der europäischen Stadt vor neuen Grenzen und Grenzüberschreitungen.

Walter Prigge, der Direktor der Stiftung Bauhaus in Dessau, hat in seinem Sammelband mit dem Titel „Peripherie ist überall“ diese Veränderungen in der städtischen Topografie beschrieben: „So wie 'Rand' oder 'Peripherie' auch in zentralen Lagen des fragmentierten Stadtraums erscheinen, entstehen umgekehrt in den peripheren Räumen 'zentrale' ökonomische Wachstumskerne industrieller Dienstleistungsdistrikte.“ Prigge meint weiter: „Die Phänomene der Desurbanisierung, die nicht an zentrale Orte gebunden sind, sondern längst die Umlandgemeinden mit entsprechenden sozial-räumlichen Problemen erreicht haben, kennzeichnen den tiefgreifenden Wandel sozialer Strukturen und die Auflösung moderner Raumformen. Damit werden Stadt, Rand, Land, Zentrum und Peripherie obsolete Begriffe, deren Gegenstände und Beziehungen neu bestimmt werden müssen.“

Während viele Planer, aber auch Politiker auf diese „Desurbanisierung“, die Krise der europäischen Stadt mit einer fast schon trotzigen Politik der Verdichtung in den Zentrumsbereichen reagieren, haben Pragmatiker wie Walter Prigge längst einen Perspektivenwechsel vollzogen. Als Grenzgänger betrachten sie die Peripherie nicht mehr aus der – überheblichen – Perspektive des Zentrums, sondern aus ihrer Binnenperspektive, suchen nach Möglichkeiten, sie nicht weiter zu verdrängen, sondern weiterzuentwickeln. Und manchmal gestatten sie sich sogar einen anderen Blick aufs Zentrum. Und siehe da: Von außen betrachten wirkt die Neue Mitte seltsam aufgeblasen und wichtigtuerisch, eine Inszenierung um ihrer selbst willen, der Hackesche Markt als Bauchnabel der Weltstadt Berlin.

Berlin-Hellersdorf. Wo in einem Reiseführer des alternativen Stattbuch-Verlags (“Neubaugebiet für 120.000 Menschen – ebenso hässlich“) aus der überheblichen Perspektive des grün-alternativen Kreuzberg der „hässliche Osten“ mit den „hässlichen Ostlern“ gleichgesetzt wird, ist heute Erstaunliches geschehen. Die Binnenstruktur der jüngsten Großsiedlung der DDR wurde weiterentwickelt und um eine neues Zentrum, die „Helle Mitte“, ergänzt. Mit Erfolg, wie nicht nur die wachsende Zufriedenheit der Hellersdorfer zeigt, sondern auch das Interesse zahlreicher Besucher, die die jüngste Foto-Ausstellung mit dem programmatischen Titel „Peripherie als Ort – Das Hellersdorfer Projekt“ besucht haben.

Solcherlei, in der Wahrnehmung der Mitte kaum beachtete Entwicklungen sind es, die den Darmstädter Planungstheoretiker Tom Sieverts optimistisch machen: „Statt einen Verlust der Mitte zu beklagen“, schreibt Sieverts in seinem viel beachteten Buch über die „Zwischenstadt“, „könnte man eine moderne Netzstruktur erkennen und damit sich eröffnende neue Muster der Ordnung, die unserer pluralistisch-demokratischen Gesellschaft angemessener sind als die alten Zentrenmuster.“

Dass diese neuen Paradigmen nicht nur für die „Zwischenstadt“ am Rande neue Perspektiven eröffnen, sondern auch für jene innerhalb des Stadtzentrums, zeigte sich jüngst in einem Projekt des Bundes Deutscher Landschaftsarchitekten (BDLA). Auf der Fischerinsel in Berlin-Mitte, einer nur einen Steinwurf von den neuen Zentren der Macht, den deutschen Arbeitgeberverbänden, entfernten Stadtlandschaft, veranstaltete der BDLA seine jährliche Ausstellung „Temporäre Gärten“. Das Thema: Zentrum und Peripherie. „Egal, wo er wohnt“, hieß es bei einer der Installationen, „baut sich jeder sein Zentrum und betrachtet sein Umfeld als Peripherie.“ Anstelle einer der üblichen Verdichtungen unter dem Allerweltswort der Urbanität zu betreiben, gelte es, „die Fischerinsel als Ort signifikanter Potentiale und Qualitäten zu entdecken“. Und als Ort für Verborgenes. Schließlich bedeute Peripherie auch, dass sich Orte aus Nutzungsinteressen heraus entwickeln und nicht nach ästhetischen Gesichtspunkten. Dabei entstünden oft „freie Räume, die Zwischennutzungen zulassen, Experimente, Aneignungen für kurze Zeit“. Diese Veränderungen des Raums böten die Chance, den „Blick für neue Möglichkeiten“ offen zu halten.

Peripherie, so könnte das Fazit dieser Ausstellung lauten, ist also nicht nur überall, sondern auch eine Frage des Standpunktes. Vom Waschbrettbauchnabel der Hackeschen Höfe aus mag der Blick auf die 20-geschossigen Hochhäuser der Fischerinsel eine ästhetische Beleidigung sein. Aus der Perspektive der Fischerinsel wiederum wirkt die Urbanität des Hackeschen Marktes nicht städtisch, sondern in hohem Maße selbstreferentiell, wenn nicht gar autistisch – keine Beleidigung fürs Auge zwar, aber eine für die Restbestände an sozialem Gewissen.

Solcherlei Perspektivenwechsel haben in der Grenzstadt Berlin freilich keine Konjunktur. Man bunkert sich vielmehr ein in den verbliebenen Räumen des Zentrums, räumlich, kulturell, ideologisch, und versucht die Wahrnehmung von innen als einzig gültiges Modell gegen die Krise der Stadt auch in deren Außenraum zu verlängern.

Das Ergebnis ist freilich das Gegenteil: Je länger die Wirklichkeit der „Zwischenstadt“ ignoriert wird, je mehr am Urbanitätsbild der Pasta-und-Grappa-Fraktion weitergebastelt wird, desto mehr wird sich die von Walter Prigge diagnostizierte Umkehrung des Verhältnisses von Zentrum und Peripherie verschärfen – räumlich wie sozial. Die Peripherie mit all ihrer „Hässlichkeit“ rückt näher, je mehr man sie aus der Wahrnehmung zu bannen sucht. Und wer ständig neue Zentren baut, ohne zu wissen, wofür, muss sich nicht wundern, wenn am Ende selbst hinter den wieder aufgebauten Fassaden des Stadtschlosses ein Baumarkt einzieht.

Was die Wahrnehmung der Peripherie im Gegenzug sichtbar machen kann, zeigt Andreas Dresens wunderbarer Film „Nachtgestalten“. In den halbdunklen, kaum lesbaren Räumen der Peripherie, irgendwo zwischen dem Kreuzberger Oranienplatz und der Hellersdorfer Kastanienallee gelegen, rücken die „Nachtgestalten“, Prostituierte, Obdachlose, Gestrandete, erst bei näherer Betrachtung als das ins Bild, was sie sind: Menschen mit einer Geschichte.

Genau diese Schärfung des Blicks auf die räumliche wie auch soziale Peripherie ist es auch, die der Ostberliner Architekturkritiker Wolfgang Kil meint, wenn er über Marzahn schreibt: „Da steht sie vor uns, die Dienstleistungsgesellschaft in ihrer ursprünglichsten Form, rauh, zügellos, unverwöhnt – der mitteleuropäische domestizierte Basar, die Survival-Ökonomie der Modernisierungsverlierer. Für wie erfolgreich müssen im Vergleich dazu jene vietnamesischen und russischen Geschäftsleute gelten, die gleich eine ganze Ladenreihe der Havemann-Passagen gepachtet haben und hier 'draußen' ein Nebeneinander der Kulturen praktizieren, das zwar nicht spannungsfrei, aber doch metropolitan ist wie bisher allenfalls in und um Kreuzberg.“

Und in der Tat. In den entgrenzten Raum der „Zwischenstadt“ mit seinen sozialen Rändern, familiengerechten Wohnparks, funktionalen Einkaufszentren und überdimensionierten Parkplatzlandschaften hat sich der städtische Alltag jenseits seiner Inszenierung zurückgezogen. Hier, in der unprätentiösen Wirklichkeit „freier Räume, Zwischennutzungen, Experimente und Aneignungen für kurze Zeit“ wird sich die Zukunft der Stadt zeigen – jenseits aller Lamenti über ihre Auflösung oder des Rückzugs auf den Bauchnabel des Hackeschen Marktes.

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