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„Ohne Noten kommt man zu mehr Leistung“

■  Laborschule und Oberstufenkolleg in Bielefeld vergeben seit 25 Jahren keine Zensuren. Für die SchulleiterInnen ist genau das der Grund für die Selbstständigkeit ihrer SchülerInnen. Ein Gespräch mit Susanne Thurn und Jupp Asdonk zum Geburtstag der Experimentalschulen

„Noten sind die einzige Möglichkeit, Schüler zu dem zu zwingen, was Lehrer sich ausdenken“

taz: Ihre Einrichtung, Frau Thurn, heißt Laborschule. Welche Experimente nehmen Sie denn da an ihren SchülerInnen vor?

Susanne Thurn: Überhaupt keine. Wir sind bloß anders. Wir sind eine „Schule für alle“ vom fünften bis zum sechzehnten Lebensjahr – die vielleicht einzige wirklich radikale Gesamtschule. Nur Schwerstbehinderte sind nicht integriert.

Die nordrhein-westfälische Bildungsministerin Behler lässt Sie fröhlich vor sich hinwursteln – und macht im übrigen ganz eigene und andere Schulreformen.

Thurn: Sehen Sie sich die Denkschrift der NRW-Bildungskommission von 1995 an: Was wir seit 25 Jahren tun, wird jetzt den anderen Schulen empfohlen: Schulentwicklung, Rechenschaftsberichte, die Freiheit, sich selbst ein Programm zu geben. Die Regierung schmückt sich bloß nicht ausreichend mit uns.

Worin könnte die Laborschule „Schule der Nation“ sein?

Thurn: Sie beweist das Undenkbare: Kinder und Jugendliche arbeiten in einer Gruppe zusammen, ohne dass es den klugen Kindern schadet und die langsameren überfordert. Und das ganz ohne Noten!

Das ist das Konzept der Gesamtschulen – die schwer auf dem Rückzug sind, auch in NRW.

Thurn: Sie waren vielleicht nicht konsequent genug. Sie haben gegen ihre Ursprungsidee versucht, SchülerInnen nach Leistung zu sortieren. Ohne neue Lernwege wirklich zu versuchen, sind sie schnell bei Noten gelandet. Außerdem konnten sie ihre Lehrer nicht aussuchen. Das ist sicherlich ein wichtiger Punkt.

Das Oberstufenkolleg verbindet die gymnasiale Oberstufe mit der Universität, Herr Asdonk. Wozu?

Jupp Asdonk: Wir versuchen die traditionell hohe Hürde zwischen Schule und Hochschule zu überspringen. Im Idealfall können die SchülerInnen unseres Kollegs, die KollegiatInnen, das Grundstudium gleich mitabsolvieren – die Universitäten erkennen bis zu vier Semester an. Die zweite, fast wichtigere Besonderheit ist, dass wir keinen Fächerkanon vorschreiben – anders als die Kultusminister, die eine engere fachliche Zurichtung für die Oberstufe beschlossen haben. Wir verbinden fachliche Spezialisierung mit einem fächerübergreifenden Unterricht, der die Verengung auf die Fächer aufhebt.

Was heißt das? Was erwartet mich als Schüler, wenn ich früh ins Oberstufenkolleg komme?

Asdonk: Zum Beispiel ein Projekt zur Verkehrssituation der Bundesrepublik vor dem Hintergrund, dass wir jedes Jahr de facto ein größeres Dorf mit unseren Autos ermorden. Die komplexen ökonomischen und psychologischen Ursachen dafür kann man nur interdisziplinär untersuchen. Oder sie beschäftigen sich mit dem Hermannsdenkmal. Sie sollen herausfinden, warum man in Deutschland 1875 ein Denkmal für eine Schlacht errichtet hat, die die Germanen schon im Jahre neun nach Christus schlugen.

Ich kenne wenige Schulen, die Ihnen das nachmachen.

Asdonk: Unser Ansatz des fächerübergreifenden Unterrichts ist lange nicht recht gehört worden. Das hat sich in den 90er-Jahren geändert. Wir werden nach Hessen und Baden-Württemberg eingeladen, um LehrerInnen auf interdisziplinäres Lernen einzustellen.

Viele Professoren denken, die Abiturienten seien zu schlecht für die Uni. Was ist da dran?

Asdonk: Ohne die berchtigte Kritik an den Schulen abwehren zu wollen: Das Problem liegt eher in der Studieneingangsphase.

Was würden Sie den Uni-Rektoren empfehlen?

Asdonk: Sie müssen akzeptieren, dass der Schritt in die Hochschule in ein ganz anderes soziales System führt. Sie sollten darum die einseitige Konzentration auf die Fachinhalte zurücknehmen, die die Einführungsveranstaltungen der Unis noch immer zu stark dominiert. Wichtiger ist es, die StudienanfängerInnen mit der neuen Umwelt vertraut zu machen.

Statt der Mathe-Einführung mit den Erstsemestlern Kaffee trinken gehen und ihnen den Campus zeigen?

Asdonk: Auch das gehört dazu. Im Vordergrund sollte stehen, sich sozial und fachlich orientieren zu können und die Methoden des wissenschaftlichen Arbeitens kennen zu lernen – eine wissenschaftliche Fragestellung entwickeln, eine Literaturrecherche durchführen oder ein Experiment und strukturiert die Ergebnisse vortragen zu können – man muss die StudienanfängerInnen viel intensiver mit dem sozialen System Wissenschaft vertraut machen. Dazu kann helfen, an die Tradition des interdisziplinären Studium generale anzuknüpfen.

Viele Erstsemestler wollen lieber ein festes Lernprogramm – um schnell wieder raus zu kommen aus der Uni.

Asdonk: Die Probleme werden doch gerade durch ein verschultes, ein Pflichtstudium nicht kleiner, sondern eher größer. Um mal vom „Elend der Uni“ zu sprechen: Ein System, das offiziell mit Riesenzahlen wie 50.000 bis 60.000 Studenten argumentiert, tatsächlich aber nur die Hälfte davon in seinen Hörsälen findet, kann nicht fehlerlos sein. Es schreckt ab, es verschleißt. Aufgrund der Erfahrungen im Oberstufenkolleg schlagen wir dagegen vor, mehr Wahlmöglichkeiten und mehr individuelle Wege zu bieten. Die Studieneingangsphase muss die Leute befähigen, mit so einer Offenheit umzugehen.

Und die Laborschule macht Unterricht nach dem Motto „Spaß muss sein“?

Thurn: Die Vorstellung ist absurd, dass wir mit unseren SchülerInnen in einer Kuschelecke das schöne Leben leben. Wir behaupten im Gegenteil, dem höchstmöglichen Leistungsanspruch überhaupt gerecht zu werden: Jeder Schüler und jede Schülerin wird ermutigt, das Bestmögliche zu leisten. Ich habe etliche SchülerInnen hier, die hätten draußen immer Einser – und dennoch können sie bei uns eine schlechte Rückmeldung bekommen: „Du hast nicht das Letzte aus dir herausgeholt.“ Einem anderen, der in normalen Schulen jahrelang gespiegelt bekommt, dass er gerade mal so ausreicht, diesem Schüler können wir sagen: „Du hast dich angestrengt und dir ist etwas ganz Tolles gelungen.“

Und was passiert, wenn die Wirklichkeit der Noten eintritt?

Thurn: Wenn die SchülerInnen bei uns mit 14, 15 Jahren zum ersten Mal Noten bekommen, dann haben sie so viel Selbstbewusstsein aufgebaut, dass sie den Vergleich mit draußen aufnehmen können. Es ist doch kein Zufall, dass sehr viel mehr SchülerInnen von uns hinterher auf den gymnasialen Oberstufen hervorragende Leistungen erbringen – obwohl sie hier nie ein klassisches gymnasiales Pensum erledigt haben. Unsere Absolventen haben hohes Vertrauen auf ihre Fähigkeiten. Sie sind in der Lage, sich fehlendes Wissen in kurzer Zeit selbstständig anzueignen – weil sie wissen, wie man viel und dennoch gerne lernen kann.

Wie kommen Eltern damit zurecht?

Thurn: Eltern unserer SchülerInnen brauchen viel mehr Unterstützung, um die Spannung auszuhalten, die sie empfinden: Dass ihr Kind zwar gerne in die Schule geht, vielleicht aber doch etwas versäumen könnte.

Welche Lernatmosphäre herrscht in einer Schule ohne Noten?

Thurn: Die SchülerInnen „hassen“ mich manchmal geradezu dafür, dass ich ihnen so viel Selbstständigkeit zumute und ihnen die Anstrengung abverlange, sich ein Thema selber zu erarbeiten. Die möchten lieber ihr „Pensum“ haben. Von dem Moment an, wo wir Noten geben, verändert sich das Lernen – leider – auch bei uns: Jetzt wird den SchülerInnen plötzlich wichtig, für die nächste Prüfung, die bessere Note und nicht mehr um der Sache willen zu lernen.

Wie reagieren KollegiatInnen darauf, dass es anstrengende Lernphasen gibt?

Asdonk: Dass ein wissenschaftliches Studium auch Anstrengung erfordert, haben wir in der Vergangenheit vielleicht nicht immer deutlich genug gemacht. Interne Debatten haben gezeigt, dass wir da unser Profil deutlicher machen müssen.

Dass nach der Projektphase auch eine Paukphase kommt?

Asdonk: Nennen Sie es eine „Phase intensiven Lernens“. Die sind im natur- wie im sozialwissenschaftlichen Bereich nötig – denken Sie etwa an methodisches Wissen. Das braucht man nun mal, wenn man empirische Untersuchungen empirisch auswerten will, das fliegt einem nicht zu.

Warum läuft ihrer Ansicht nach Schule so gründlich schief?

Asdonk: Weil die SchülerInnen durchschauen, dass die Gesellschaft lügt: Sie kann ihre Versprechungen einfach nicht erfüllen, mit denen sie ihre Forderung nach angestrengtem Lernen begründet.

Der CDU-Vorsitzende Schäuble sagt: Reduziert die Zahl der Schulabbrecher, dann erlernen mehr einen Beruf.

Asdonk: Schäuble liest doch selbst in der Zeitung, dass die Aktienkurse steigen, wenn der Konzern ankündigt, Leute auf die Straße zu setzen. Man kann sich gar nicht ausmalen, welches Maß an Demotivation eine solche Nachricht bei einem Lernenden auslöst.

Ansonsten ist in den Schulen alles paletti?

Thurn: Nein. Schulen sind in einem erbarmungswürdigen Zustand – und jeder weiß das. Sie langweilen die Kinder tödlich in einem Lebensabschnitt, in dem sie am eindrücklichsten lernen könnten. Alle 45 Minuten kommt ein neuer Entertainer in immer noch größere Klassen und bietet seine Fachhappen. Wenn er ein guter Entertainer ist, hören ihm die Kids vielleicht zu. Ist er ein schlechter, gehen sie auf Tauchstation oder quälen ihn. Warum sind Noten in Lehranstalten so wichtig?

Thurn: Weil Noten die einzige Möglichkeit für die LehrerInnen sind, die SchülerInnen zu dem zu zwingen, was sie und die Kultusbeamten sich ausgedacht haben. Schaffen Sie für ein halbes Jahr in einem klassischen Gymnasium die Noten ab: Dann bricht das ganze System zusammen.

Walter Momper, Berliner SPD-Spitzenkandidat, will Qualität durch zentrale Prüfungen sichern.

Thurn: Als würde Qualität dadurch gesichert, dass ich sage: Da ist die Messlatte, da müsst ihr alle rüber! Auch an unserer Schule würden zentrale Prüfungen so ein Gewicht entfalten, dass alle unterm Strich nur noch für diese Prüfung lernen. Die Qualität des Lernens würde dadurch schlechter, nicht besser.

Asdonk: Auch wenn das Beispiel hinkt: Eine zentrale Prüfung ist ungefähr so, als wenn man für den Vergleich von Autos nur noch einen Maßstab zulässt: seine Höchstgeschwindigkeit.

Was ist ihr Maßstab guter Bildung?

Thurn: Der Verschiedenheit der SchülerInnen gerecht zu werden. Unterschiedliche SchülerInnen arbeiten in Gruppen an unterschiedlichen Themen – um sie den anderen weitergeben zu können. Dann haben sie am Ende einer Unterrichtseinheit über die französische Revolution keinen Test ...

... sondern eine Rathausbesetzung ...

Thurn: ... lassen wir die Handlungsorientierung mal weg. Dann hätten alle mindestens eine Ahnung davon, was es alles Spannendes an der Revolution zu lernen gibt – das macht Lust auf eigenes Weiterforschen.

Was kann der Beitrag ihrer Schulen sein, um der Misere der Lehranstalten abzuhelfen?

Thurn: Die LehrerInnen der Normalschulen kommen zu uns, um sich beispielsweise fürs frühe Fremdsprachenlernen fortzubilden. Wir haben als Erste Einblick gegeben in die Arbeitswelt unserer Republik – heute sind Berufspraktika gang und gäbe. Auch das altersgemischte Lernen, bei uns eine Selbstverständlichkeit, ist plötzlich der Hit in der pädagogischen Diskussion.

Geht's aktueller?

Thurn: Wir sind Beispiel für ständige Schulentwicklung, die nun auch anderen Schulen abverlangt wird. Die Richtung, die unsere Ministerin damit einschlägt, ist grundsätzlich richtig, weil sie auf den Kern des Problems zielt. Nur fängt sie leider die Schulen, die sie erst mühsam auf die Freiheit vorbereitet, jetzt mit dem Lasso der Qualitätssicherung durch Zentralprüfungen wieder ein.

Was ist der Widerspruch zwischen der „Schule in eigener Verantwortung“, die ja fast überall angestrebt wird, und zentralen Prüfungen?

Thurn: Man müsste den freigelassenen Schulen viel mehr Zeit geben, ihre eigenen Profile zu entwickeln. Zentrale Prüfungen aber und angeblich vergleichbare Standards zwingen gerade diese Schulen wieder zurück ins alte Gleis: Disziplinierung, Sortierung, Paukerei für die nächste Prüfung.

Was wünschen Sie sich zum Geburtstag

Asdonk: Mehr Interesse. Bei der Landesregierung, in der Wissenschaft und bei den Schulen – um mit uns zu kooperieren und unsere „Produkte“ einzusetzen.

Thurn: Dass wir Schulen nicht nachlassen und konsequent die neuen Wege des Lernens gehen – gegen den Trend, Kinder zu Humankapital zu degradieren.

Interview: Christian Füller

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