: Die letzten Stunden leben
■ In der Todesstunde nachts nicht allein sein, wünschen sich die meisten Menschen / Der Bremer Hospiz-Verein bietet Nacht- und Sitzwachen an / Ein Geschenk für beide
Ehrenamtliche zu finden ist schwer. Für die Nacht- und Sitzwachen AG der Hospiz-Hilfe ganz besonders. Sie suchen Ehrenamtliche für etwas, das viel kostet, aber noch mehr geben kann: nachts Sterbende zu begleiten.
Gerufen werden sie von Angehörigen, von Krankenhäusern oder Pflegeheimen, wenn die Todesstunde naht. 12- bis 20-mal im Monat. Dann schickt die Nacht- und Sitzwachen AG abends gegen 22 Uhr jemanden hin, der bis zum Morgen bleibt. Einfach da ist. Bis es hell wird. Bis die Krankenschwester kommt, und das Leben wieder – und noch einmal – seinen gewohnten Gang geht.
Die Freiwilligen der Nachtwache kennen die Sterbenden nicht. „Das ist auch nicht nötig“, sagt Armin Weber. Es sei nicht wichtig, eine Beziehung aufzubauen. Die Masken, sagt er, fallen. Keine Verkleidung mehr. „Diese Ehrlichkeit, Menschlichkeit berührt.“ Schwer falle es, Worte zu finden, die das beschreiben.
Seit fünf Jahren macht Weber Nachtwachen. Das sei etwas ganz besonderes. Ganz, ganz anders als Sterbebegleitung am Tag. Nachts sei die Angst größer. Die Dunkelheit. Die Stille. Der Schlaf der Anderen. Die Angst allein zu sein. Allein zu sterben.
Nacht- und Sitzwachen erinnern Weber an die Kindheit. Das Verlangen, wie damals als krankes Kind, nicht alleine sein zu wollen. Die Mutter, wenn auch im anderen Raum, um sich zu wissen. „Das tat gut. Man war nicht allein.“
Die Sterbebegleiter tun nichts weiter als da zu sein. Am Bett zu sitzen. Die Hand zu halten. Ein paar Worte zu sprechen. Manchmal nicht mal das. Manchmal sitzt Armin Weber auch am anderen Ende des Zimmers. „Wenn ich spüre, dass Distanz gewünscht ist.“ Wenn er ein Gefühl hat, dass er zwar da sein soll, aber nicht nah am Bett. Kommunikation läuft fast nur über Gefühle ab. Nonverbal.
Schwierig sei es manchmal zu sehen, wie man aussehen kann als Sterbender, berichtet Weber. Wie verfallen. Mit welchen glasigen Augen. Mit Kanülen belegt. Wenn manchmal jeder Atemzug ein Kampf ist. „Ich sehe mich dann selbst da liegen“, sagt Weber. Trotzdem: Eine wichtige Erfahrung. Das loslassen lernen. Das Abschied nehmen.
Bei der Nachtwache hat Weber bisher einmal einen Tod miterlebt. Am Quälendsten sei der Zwischenraum danach, wenn man nicht glauben kann, dass der Mensch jetzt tot ist. Regina Heygster hat noch keinen vergessen, an deren Bett sie nachts gewacht hat. „Da ist was entstanden“, sagt sie. Eine Vertrautheit und Nähe. „Ganz ad hoc“, sagt Weber sei man in einen ganz intimen Bereich eindrungen. Das könne man nicht vergessen. Oft erkundigt er sich am anderen Tag nach dem Sterbenden. Manchmal gebe es ein Wiedersehen: eine zweite oder dritte Nachtwache am selben Bett. Und eine Beerdigung.
Die Erfahrungen der Nacht sei jedesmal eine andere. Auch jeder, der Nachtwachen macht, sei anders. Von 20 bis 73 Jahre geht Webers Liste der Ehrenamtlichen. Die meisten seien irgendwie spirituell daran interessiert. Ob christlich oder buddhistisch, das spielt eigentlich keine Rolle, sagt Heygster. Wie oft sie am Sterbebett sitzen ist unterschiedlich. „Ganz nach eigenem Ermessen“, erzählt sie. Zwei- bis dreimal pro Monat – das sei schon viel.
Auch die Motivation für die Nacht- und Sitzwachen ist unterschiedlich. Bei Manchen war es der Tod der Großeltern, Eltern, Freunde, die sie gern begleitet hätten – aber nicht konnten. Oder: Die sie begleitet haben und diese Erfahrung jetzt anderen schenken möchten. Die biographischen Hintergründe sind vielfältig, sagt Armin Weber.
Bei Regina Heygster war es noch etwas ganz anderes: Sie ist Mutter dreier Kinder. Graphik-Designerin. Sie stand mitten im Leben. Trotzdem fehlte was. Etwas das ihrem Leben einen anderen Sinn gab, erzählt sie. Seit anderthalb Jahren begleitet sie Sterbende. Das, sagt die jetzige Vorsitzende des Hospiz-Hilfe Vereins, sei wie ein Geschenk. Heute könne sie die Gegenwart viel stärker erleben.
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Ab dem 10. September bietet die Nacht- und Sitzwachen AG der Hospiz-Hilfe einen Kursus an. InteressentInnen können sich ab sofort unter Tel.: 32 40 72 melden.
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