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Kurzschnittiges „Pulp Fiction“ für Arme

■ Erst die Vorhut der filmischen Kiez-Konjunktur: Sönke Wortmanns „St. Pauli Nacht“

St. Pauli Nacht oder die Angst des Rezensenten vorm neuen Wortmann. Dessen letzte Zellu- loidschustereien Das Superweib und Der Campus berechtigten in der Tat zu ärgsten Befürchtungen. Dass diese nicht in Gänze erfüllt werden, heften wir aber nicht Wortmann, sondern Autor Frank Göhre und einigen Akteuren (etwa Benno Fürmann) ans Revers. Dass diverse Monatsillustrierte dieser Stadt den Film allerdings gleich seitenweise abfeiern, überrascht dann doch, mag aber lokalpatriotische Gründe haben. Uns ward durch die polierten Hamburg-Bildchen, die zum allseits beliebten Wiedererkennungsspielchen einladen, ja auch etwas Trost zuteil.

Vor dem Hintergrund der letzten Wortmänner haben wir es bei St. Pauli Nacht mit einem geradezu avancierten Projekt zu tun. Die punktuell verknüpften Erzähl-stränge der Vorlage funktionieren auch bei Wortmann, und so episodiert er sich kurzschnittig durch den Hamburger Stadtteil. Zwar hängt solche Episodenmode mittlerweile als Dutzendware an der H&M-Stange, ist mithin etwas langweilig, zumal wenn die von einander unabhängigen Erzähl-stränge final unüberraschend-zufällig zusammenlaufen – doch auch Wortmann sei sein Pulp Fiction für Arme gegönnt.

Auf dem Felde der Komödie wars, wo sich Wortmann seine Sporen verdiente, und so überrascht es nicht, dass er sich auch in St. Pauli Nacht um Schenkelklopfer bemüht. Wurde für den feinsinnigen Stil des Großmeisters der Komödie noch die Formel vom „Lubitsch-Touch“ geprägt, gerät der Versuch, Äquivalentes für Wortmann aufzuspüren, rasch in derbere Kategorien. Wo Lubitsch sachte berührt, da langt Sönke-Handwerk statt Kunst-Wortmann eben mal hin: So muss der über die Reeperbahn amoklaufende Nackte (Armin Rohde) schon ein hengstgroßes Gemächte sein eigen nennen, um nur eine der holzschnittartigen Überzeichnungen zu erwähnen. Nichts gegen Typisierungen, doch der „Wortmann-Hammer“ macht aus jeder Rolle etwas, für das der Begriff Klischee noch harmlos scheint.

Und St. Pauli? Nun, indem Wortmann den Stadtteil zur publikumsanreizenden Oberfläche reduziert, werkelt er nur am bestehenden Mythos für Touristen weiter. Weitere Anbauten sind ab Ende September zu erwarten: Absolute Giganten, der Eröffnungsfilm des Filmfestes, hat den Kiez als Location, und Dieter Wedels „neue Fassung“ vom König von St. Pauli gibt beim Harald-Schmidt-Sender den Appetizer zum Serienstart des 26-Teilers Die Rote Meile, einem faden Table-Dance-Aufguss in recycelten Wedel-Kulissen.

Die Kiez-Konjunktur im Bild stört ja kaum, lässt sichs in deren Schatten ja durchaus leben. Wenn aber an Nobis- und Millerntor erst die avisierten Betonkolosse mit Entertainment-Vollwaschgang stehen, bleibt die Frage, ob dem befilmten Stadtteil nicht die Luft ausgeht. Tim Gallwitz

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