: Mehr als stilistischer Sondermüll
Über DDR-Bauten zerreißt man sich an Stammtischen gern das Maul. Doch Staat und Baugesellschaften beginnen umzudenken. Auftakt zur neuen taz-Serie über DDR-Architektur ■ Von Hans Wolfgang Hoffmann
„Sind Sie verrückt geworden?“, entfuhr es dem Architekturredakteur, dessen Name nichts zur Sache tut, als ihm sein ebenfalls frontstadtsozialisierter und der Baukunst verpflichteter Kollege eröffnete, dass er diesen Sommer in einen Plattenbau ziehen werde. Freiwillig. Die Reaktion ist nicht untypisch. Bisher war der Umgang mit DDR-Architektur vor allem von Unverständnis gekennzeichnet.
Mit dem gleichen Eifer, mit dem Lenin-Statuen, Parteiabzeichen und Staatsinsignien aus dem Stadtbild entfernt wurden, ging es den politischen Bauten an den Kragen.
Das spektakulärste Opfer war das Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten. Unbehelligt von Protesten wurde der repräsentative Riegel im Mai 1995 abgebrochen. Dabei war bereits damals klar, dass alle Altbauten, die vom Bonner Außenamt als Berliner Dienstsitz ins Auge gefasst wurden, dem Raumbedarf des Auswärtigen Amtes nicht genügen würden. Ihm folgte 1998 das Gästehaus des Zentralkomitees der SED. Anstelle des leuchtenden Meilensteins entsteht derzeit ein postmoderner Allerweltsbau, der weder der Wasserlage noch dem wichtigsten Nutzer – der Brasilianischen Botschaft – Ausdruck verleiht.
Kaum weniger Gedanken machte man sich, als man Polen und Ungarn genehmigte, ihre Botschaften Unter den Linden abzureißen. Der Bund, der mit unglaublichem Aufwand Gebäude anderer Epochen denkmalpflegerisch herrichtete, glaubte, DDR-Bauten nur nach restloser Überformung weiter verwenden zu können. Mit den steinernen Lochfassaden, die den eleganten und konstruktiv ehrlichen Fronten übergestülpt wurden, wirken die gleichfalls Unter den Linden angesiedelten Ex-Ministerien für Volksbildung und Außenhandel, die jetzt vom Deutschen Bundestag genutzt werden, nun wie typische Nach-Wende-Produkte.
Es mag normal sein, dass Staatswesen die Werke ihrer Vorgänger mit Nichtachtung strafen. Freilich reicht der Hinweis auf ideologische Inkompatibilitäten als Erklärung nicht aus. Denn der DDR-Alltagsarchitektur erging es ähnlich: So ließ etwa allein der Anblick der Tafelgebirge im östlichen Stadtraum westliche Planer nach der Wende gleich an Abriss denken. Lediglich die Tatsache, dass in den Plattensiedlungen Menschen wohnen, verhinderte solche Szenarien.
Seither wurden zwar zweistellige Milliardenbeträge investiert, doch es ging weiter um Korrektur. Statt nur objektive Mängel am Bauzustand zu beseitigen (die nebenbei bemerkt so schlimm gar nicht gewesen sein können, da im übrigen Osteuropa derartige Siedlungen auch ohne Sanierung nach wie vor bewohnt werden), manifestierte sich die „Aufwertung“ des Bestandes in der Beseitigung seiner gestalterischen Eigenarten. Unter neuer Thermohaut ist heute kaum eine Plattenkonstruktion als solche zu erkennen. Wilde Farbkompositionen verleugnen ihre Dimension. Zubauten, hunderttausende von neuen Büschen und Bäumen haben den Großraum, der einst das Wohnkollektiv zusammenhielt, in Einheiten von Kreuzberger Kiezgröße zerschlagen.
Während die Wohnsiedlungen immerhin noch in Betrieb sind, wurden Kulturhäuser, Jugendtreffs und andere Gesellschaftsbauten fast ausnahmslos stillgelegt – selbst dort, wo der Bedarf an solchen Volkshäusern weiter besteht, wie die Bemühungen um ein neues Volkshaus anstelle des Palastes der Republik beweisen.
Die Rempeleien im östlichen Stadtraum nach der Vereinigung resultieren freilich nicht aus Ignoranz oder böser Absicht. Die Reaktion westlicher Beobachter konnte nicht anders ausfallen. Denn die ihnen vertrauten Bewertungskriterien werden von der DDR-Architektur nicht bedient: Nicht nur, dass ihre technischen Standards nicht ihrem gewohnten Komfort entsprechen. Städtebaulich widersetzen sich die Bauten der in Westberlin entwickelten Idee von der Permanenz des Stadtgrundrisses, die seit dem Erfolg der Internationalen Bauausstellung in den Achtzigerjahren zum Gesamtberliner Dogma der Blöcke, Korridorstraßen, Traufhöhen, Fensterformate und steinernen Lochfassaden degenerierte. Vor allem aber sperren sich die Gebäude, die irgendwie alle gleich aussehen und deren Urheberschaft oft nicht einzelnen genialen Persönlichkeiten zugeschrieben werden kann, der Interpretation als sich selbst genügende Baukunst, die in der individualisierten Gesellschaft des Westens oberster Wert ist.
Gleichwohl mehren sich mittlerweile Beispiele, die von einer Entspannung des Verhältnisses zur DDR-Architektur künden. Nachdem die Nachfolgeorganisation der Kommunalen Wohnungsverwaltung Mitte ihren Bestand unmittelbar nach der Wende noch genauso überpinselte wie alle anderen Gesellschaften, nimmt sie seit Jahren denkmalgerechte Sanierungen selbst dort vor, wo sie formal gar nicht unter Schutz gestellt sind – wie bei den Hochhäusern der Leipziger Straße, den Wohnscheiben der Karl-Liebknecht- beziehungsweise Rathausstraße oder wie im Nikolaiviertel.
Entgegen ihren Gepflogenheiten respektiert auch die Post die ursprüngliche Gestalt des Fernsehturms und seiner Umbauung. Inzwischen hat sogar ein Bundesministerium in einem kaum veränderten DDR-Bau Platz genommen: Jürgen Trittins Umweltressort mietet einen Teil des ehemaligen Hauses der Elekroindustrie, dessen Eigentümer, die gleichfalls staatsnahe Treuhand Liegenschaftsgesellschaft, sich den Hochhausfantasien für den Alexanderplatz verweigert.
Das spektakulärste Exempel für den Sinneswandel ist das ehemalige Staatsratsgebäude: Nachdem die Bundesregierung noch 1993 rund 1.400 Architekten beschäftigte, um im Spreeinsel-Wettbewerb Gründe für seine Beseitigung zu finden, reichte nun eine schlichte Modernisierung der Haustechnik, damit das mittlerweile unter Denkmalschutz stehende Gebäude wenigstens vorübergehend als Amtssitz des deutschen Bundeskanzlers dienen kann.
Geradezu revolutionär verhielt sich kürzlich die Berliner Bauverwaltung, als sie am 7. Juli diesen Jahres Pläne für eine Flutung des Freiraums um den Fernsehturm präsentierte und damit die Idee des DDR-Zentrumsbands nicht nur erstmals nach der Wende rehabilitierte, sondern weiterdachte.
Das ist freilich die Ausnahme. Die Regel ist, dass DDR-Gebäude in ihrem Bauzustand eingefroren und mithin nur unter Quarantäne gestellt werden. Zu Schutzargumenten werden nur jene Eigenschaften, die mit den heute allgemein gültigen westlichen Wertmaßstäben konform gehen. Das führt häufig zu schizophrenen Urteilen.
Ein Musterbeispiel dafür ist ein jetzt in der Berlin-Edition erschienenes Buch, das sich erstmals des Staatsratsgebäudes annimmt. Darin geißelt Philipp Meuser einerseits dessen städtebauliche Haltung und preist andererseits die Qualität seiner Innenausstattung. Doch es handelt sich um ein Werk, angesichts dessen Bedeutung man getrost davon ausgehen kann, dass seine Architekten auch auf einem in sich konsistenten Gedankenfundament aufbauten. Tatsächlich konnte die gesamtdeutsche Bautheorie die DDR-Epoche in der Architekturgeschichte bis heute nur als abgeschlossenes Kapitel nacherzählen. Ihre ureigensten Charakteristika herauszu arbeiten und auf Aktualität abzuklopfen gelang dagegen nicht. Das aber ist Voraussetzung, will die Gegenwart die Hälfte des Berliner Baubestands, der im Osten liegt, nicht nur als stilistischen Sondermüll bewahren, sondern auf ihm aufbauen. Die Frage muss lauten, was ganz Deutschland aus den Bauerfahrungen der DDR lernen kann. Teil II erscheint am 2. Oktober: „Rappelkisten statt Ersatzidyllen – Kitabau in Ost und West“
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