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Ein System kennt keine Grenzen

Meisterschaften im Dreisprung durch die Moderne: In Berlin wird „Das XX. Jahrhundert – Kunst in Deutschland“ noch einmal besichtigt. Man gibt sich international, koppelt Widersprüche zwischen Ost und West und vertraut auf Joseph Beuys als Erlöser  ■   Von Harald Fricke

Am Morgen des letzten Tages wird bei einer Olympiade stets Marathon gelaufen und am späten Nachmittag kommen zum Abschluss dann die Staffeln. Offenbar sind Ausdauer und eine mannschaftlich geschlossene Leistung die großen Tugenden des Sports. Mit Ausstellungen wie dem Rückblick auf „Das XX. Jahrhundert“ in Berlin finden sich diese Wertmaßstäbe nun auch in der Kunst wieder. Auf drei Häuser hat Peter-Klaus Schuster, Generaldirektor der Berliner Museen, einen Wettkampf der Positionen aus 100 Jahren Kunst in Deutschland verteilt. Die Übungen, in denen 200 Künstler und ein paar Künstlerinnen mit insgesamt 600 Werken antreten, heißen „Geist und Materie“, „Collage – Montage“ und „Die Gewalt der Kunst“. Wer in allen Disziplinen besteht, wird Jahrhundertmeister im Dreisprung durch die Moderne.

Nach der Zahl der ausgestellten Exponate hat Joseph Beuys als Einzelkünstler sämtliche Kategorien gewonnen. Orientiert man sich dagegen an der Weite des Spektrums aus Ismen und Produktionsformen, liegt der Hamburger Bahnhof mit seinem Medienlabyrinth vorn, das bei Filmstills aus Max Skladanowskys „Boxendes Känguruh“ beginnt und mit Hanne Darbovens auf 424 Blättern mäandernder Schriftarbeit über Kurt Schwitters endet. Entsprechend ist auch für den Besucher der Parcours lang und beschwerlich, den man von Arnold Böcklins „Totenmeer“ (1883) im Alten Museum aus zurücklegen muss, um sich schließlich bei Dieter Roths „Großer Tischruine“ aus dem Jahr 1998 vollständig im Sammelsurium des Hamburger Bahnhofs zu verlieren. Leer rauscht der Kopf, und einigermaßen erledigt stellt man noch fest: Die Speicher sind prall gefüllt am Ende des Jahrhunderts, die Kataloge wiegen zentnerschwer und die Fördergelder der Lottostiftung liegen bei etlichen Millionen Mark. Als Materialschlacht, mit der sich das 20. Jahrhundert von Berlin aus verabschiedet, ist die Ausstellung vollauf gelungen.

Neu ist die Idee zu dem Mammutunternehmen allerdings nicht. Bereits 1906 hatte Hugo von Tschudi, der damalige Direktor der Nationalgalerie, gemeinsam mit seinem Hamburger Kollegen Alfred Lichtwark und dem Kunsthistoriker Julius Meier-Graefe einen Rückblick auf deutsche Kunst zwischen 1775 und 1875 zusammengetragen. Die Auswahl wurde zum Gradmesser kultureller Identität, auf die sich fortan auch die Museen in Hamburg oder München bei ihren Sammlungsankäufen berufen sollten. Seit dieser Ausstellung hat der romantic spirit des 19. Jahrhunderts in Sachen German Kunst überhaupt erst die klaren Richtlinien und Konturen eines Caspar-David-Friedrich-Bildes bekommen.

Offene Märkte statt Geburt einer Nation

Von einer solchen Geburt der Nation aus dem Geist der Kunst hat sich die Neuauflage entfernt. Im Zeichen eines globalen Marktes und der weltweiten Ausdifferenzierung kultureller Entwicklungen gibt sich „Das XX. Jahrhundert“ vor allem international und für alle Richtungen offen – auch wenn man sich anscheinend noch immer nicht für Konzeptkunst, Feminismus oder Theorie und Kritik begeistern mag. Ansonsten hat jede Kunstbewegung ihren Platz in Berlin gefunden: Endlich darf man die hier selten gezeigten Arbeiten des „Blauen Reiters“ im Original sehen oder den ironischen Pop von Sigmar Polke mit Gerhard Richters grau gehaltenen „Achtundvierzig Portraits“ (1971/72) abgleichen. In der Neuen Nationalgalerie gibt es einen von Otto Pienes wunderbar illuminierten „Zero-Lichträumen“, der sanft zwischen Space-Age- und Chill-out-Zone schimmert; gleich nebenan bekommt man von den Ausstellungsmachern im Experiment vorgeführt, dass eben auch Caspar David Friedrichs stille Landschaften und Barnett Newmans monochrome Bildwände zwei Fenster zur gleichen spirituellen Welt sind. Dann ist man der ästhetischen Weltformel von vor einhundert Jahren noch einmal sehr nahe.

Im Hamburger Bahnhof hat der dort eingeschlagene Kurs mehr Alltagshaftung und reicht von dadaistischen Collagen über Fluxus-Vitrinen bis zu Wolf Vostells plakatwandgroßen Schmähungen der amerikanischen consumer culture. Eine Treppe höher breitet sich Marcel Broodthaers' „Décor“-Installation von 1975 aus, die mit heute noch hell blitzender Geistesgegenwart in der Engführung von Kultur und Krieg diverse Schusswaffen als Kunstsammlung präsentiert. Sogar die lehrsamen Politposter von Klaus Staeck aus den besseren Tagen der SPD wirken ins Treppenhaus geklebt wie ein taufrisches Underground-Projekt, und weil der Kölner Schokoladenmulti Peter Ludwig vor drei Jahren gestorben ist, gibt es keinen Ärger wegen Hans Haackes Billboards zum Sponsoren-Bashing am Beispiel des „Pralinenmeisters“.

Aber auch kulturpolitische Zwistigkeiten, wie sie Christos Joachimides und Norman Rosenthal noch für ihre „Moderne“-Ausstellung vor zwei Jahren überwinden mussten, scheinen nicht mehr zu existieren. Der Streit rund um die „Beutekunst“ ist beigelegt: Kandinskys „Komposition VI“ aus der Sankt Petersburger Eremitage hängt als Beleg für das Geistige in der Kunst ebenso selbstverständlich im Souterrain der Nationalgalerie wie Leihgaben aus dem Guggenheim Museum in New York. Das Betriebssystem Kunst kennt keine Grenzen.

Ein Bild fehlt trotzdem in Berlin. Es ist Paul Klees „Angelus Novus“, der Walter Benjamin begleitet hatte, als er seine Geschichtsthesen schrieb: „Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm unablässig vor die Füße schleudert.“ Benjamin sah in dem Engel ein Sinnbild dafür, dass im Fortschritt der Geschichte zugleich ihr Verfall angelegt ist. Dass dieses Urteil noch immer Gültigkeit besitzt, konnte man in der Kunst zuletzt am Eklat zur Ausstellung „Aufstieg und Fall der Moderne“ in Weimar sehen, als Staatskünstler der DDR harmonisch vereint mit Dissidenten hingen. Und auch die Konzeption der Berliner Ausstellung, die so sehr darauf abhebt, eine einigermaßen günstige Bilanz für die Kunst des 20. Jahrhunderts zu ziehen, wirkt in ihrem Bemühen um eine alles verschlingende Geschichtsschreibung oberflächlich und seltsam hilflos.

Um allzu großen Unwägbarkeiten im Umgang mit dem kunsthistorischen Material aus dem Weg zu gehen, hat sich Schuster bei der Themensetzung, wie er selbst sagt, „radikal und holzschnittartig für drei Blickachsen entschieden“, die allesamt das Wesen deutscher Kunst dezent ausblenden und stattdessen aufzeigen sollen, wie sehr Deutschland im 20. Jahrhundert eine Drehscheibe internationaler künstlerischer Strategien ist. Wer als DAAD-Gast irgendwann einmal Berlin besuchte, passt ebenso ins Gesamtbild wie etwa Piet Mondrian oder die niederländische De-Stijl-Gruppe, weil man sich am Bauhaus mit ihrem trocken funktionalen Design beschäftigte. Doch selbst diese sehr weit gefasste These vom freien Austausch entpuppt sich schnell als Problem: Was nützt die schönste Zusammenschau von Arno Breker und Andy Warhol, Baselitz und Sitte oder Marcel Broodthaers und Klaus Staeck, wenn die Kriterien für die entsprechenden Zuordnungen innerhalb der Themenblöcke fehlen?

So türmen sich unter dem Aspekt der Gewalt im Alten Museum expressionistische Archaik, Nazi-Ästhetik und der Exorzismus in den Performances der Wiener Aktionisten nacheinander auf. Der immense Widerspruch nimmt dabei kaum Konturen an: Wo eben noch im Dritten Reich Künstler als „entartet“ verboten wurden, finden sich direkt nebenan Günther Brus' fiktive „Selbstverstümmelung“ (von Kurt Kren 1965 gefilmt) und Via Lewandowskys Bilder von deformierten Körpern aus dem Jahr 1992 wieder – als ob man die Angst vor den Säuberungen durch die NS am Beispiel aktueller Kunstproduktion neu provozieren müsste. Das ist sehr schwarze Pädagogik.

Hier Klagelied, dort Weltsprache

Oft bleibt es bei der bloßen Faszination der Durchschlagskraft des Ästhetischen. Etwas mehr kunstwissenschaftliche Sorgfalt hätte man schon erwarten können, wenn neben zwei abstrakten Farbflächen von Ernst Wilhelm Nay aus den späten Vierzigerjahren die figürlichen Klagebilder eines Willi Sitte oder Harald Metzkes positioniert wurden, die erst 1956/57 entstanden sind. Was hier unter „Mythen des Neubeginns“ subsumiert wird, war im Osten bereits Ergebnis einer kulturpolitisch geführten Formalismus-Debatte, die den sozialistischen Realismus zur Staatskunst erhob. Im Westen galt dagegen die Abstraktion als Garant einer befreiten künstlerischen Weltsprache.

Dieser Konflikt wird nicht weiter bearbeitet, sondern in den folgenden Räumen einfach bloß wiederholt: Dann stehen sich Werner Tübkes fein ziselierte Historienschinken und Georg Baselitz' expressive Pathosgesten als Kritik am „neuen Menschen“ unversöhnlich und doch sprachlos gegenüber. Ihre Bilder jedenfalls zeugen eher davon, wie wenig sich die vorgebliche schöpferische Gewalt und Wirkungsmacht der Kunst vom Denken in Systemen absetzen konnte. Schließlich wächst der Künstler nur innerhalb der Gesellschaft, die ihn hervorbringt.

Das mag auch für Joseph Beuys gelten, der quer durch die gesamte Ausstellungstrilogie in der Rolle des „Künstlers als Erlöser“ in Szene gesetzt wird. Geist und Materie lassen sich in den Arbeiten von Beuys vereinen, das 20. Jahrhundert findet bei ihm in Basaltblöcken ein monumentales Ende und selbst das listenreiche Schweigen eines Marcel Duchamp lässt sich mit einem Beuys-Zitat an der Wand als „überbewertet“ abhandeln. In Beuys finden letztlich messianisches Künstlergehabe und romantisierende Weltsicht, Goethes idealistische Schönheit durch Bildung und Nietzsches „Artisten-Metaphysik“ zueinander. Das macht ihn im Nachhinein noch deutscher als deutsch. Als „Revolutionär neuen Typs“, der „kein Manifest einer wie auch immer gearteten politischen Bewegung verkündet“, wird er denn auch im Katalog charakterisiert. Das Gründungsmitglied der Grünen möchte man in Beuys heute offenbar nicht mehr sehen.

Und auch mit einer anderen Gruppe von Künstlern hatte man bei der Einordnung ins „XX. Jahrhundert“ einige Schwierigkeiten. Der DDR-Untergrund, in Zeiten des Mauerfalls als subversive Kraft des Ostens hoch gelobt, muss sich zehn Jahre später mit dem Katzentisch begnügen; a. r. Penck gilt nur noch als kauziger Maler mit Hang zum Kosmos, die Performance-Szene wird mit einer Sammeldokumentation abgehakt. Zur Eröffnung hatte man dann auch prompt vergessen, (e.) Twin Gabriel als Akteure aus dem 89er Video „Permanente Kunstkonferenz“ einzuladen. Die Gästeliste zum „XX. Jahrhundert“ hat offenbar keiner mehr kontrolliert.

Bis 9. Januar 2000; Altes Museum, Nationalgalerie, Hamburger Bahnhof, Berlin. Der Katalog , Nicolai Verlag, 658 S., kostet 49,80 DM. Außerdem ist bei DuMont der Bildessayband „Das XX. Jahrhundert“ erschienen, 480 S., 49,90 DM.

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