: Überall Überväter
Kubricks „Eyes Wide Shut“ ist ein Film von einem Mann über einen Mann für den jungen Mittelstandsmann ■ Von Marlene Streeruwitz
Versprochen wird uns ein „dramatischer Thriller um Eifersucht und sexuelle Obsession“. Die erotischsten Bilder aller Zeiten kämen da auf uns zu, hatte es schon vor Monaten geheißen. Zu sehen ist in „Eyes Wide Shut“ dann ein langsamer, langweiliger Kommentar zu Macht und Machtlosigkeiten, der ohne weiteres auf Transatlantikflügen gezeigt werden könnte. Aber. So endet es ja meistens, wenn die „erotischsten Bilder aller Zeiten“ angekündigt werden. Und. So muss es auch enden, wenn in Sachen sexueller Obsession auf eine Vorlage aus der k. u. k. Monarchie zurückgegriffen wird. Herrn Schnitzlers prägende Kinderjahre fielen in die Sechziger- und Siebzigerjahre des vorigen Jahrhunderts, und von da stammen dann auch all die läppisch altmodischen Vorstellungen von Obsession.
Das beginnt gleich am Anfang des Films mit Sky Dumonts Anmache als Sandor Szavost. Mit ungarischem Akzent und Walzer und der alten Leier der Kleinstadtcasanovas, man müsse ficken, weil die Zeit vergeht. Das ist ein ziemlich formaler Grund für sexuelle Maßnahmen, und es beruhigt einen vorerst, wenn Nicole Kidman/Alice Harford sich seinen grapschenden Händen und dem Vorschlag, die Skulpturensammlung des Gastgebers anzuschauen, entwindet. Aber hätte sie nur! Hätte sie nur mit Sky DuMont/Sandor Szavost die Skulpturensammlung angesehen. Sie muss diese treuherzige Entscheidung für ihren Mann nämlich bereuen. Ihr Mann, Tom Cruise/Dr. William Harford, erklärt ihr dann, während über einem Joint die Party besprochen wird, dass er sich ihretwegen und ihrer Treue wegen keine Sorgen mache. Er sei ihrer sicher, sagt er ihr. Daraufhin muss sie in einem Anfall psychischer Selbstverteidigung eine kleine erotische Fantasie preisgeben, die nichts mit ihm zu tun hat.
Und er ist eifersüchtig. Plötzlich. Er hat Visionen (in Schwarzweiß) von ihr mit dem Navy-Offizier im Bett (konvulsierende Oberkörper) und versucht fremdzugehen (sexuelle Obsession).
„Eyes Wide Shut“ ist ein Film von einem Mann über einen Mann für Männer. Ist ein Männerfilm in der Mike-Hammer-Tradition. Die anständigen Frauen sind dramaturgische Versatzstücke. Nicole Kidman/Alice Harford ist der Grund für die langen New Yorker Nächte. Aber wie es sich für die Mittelstandsmom gehört, sitzt sie in ihrem Upper-Westside-Apartment und wartet. Oder träumt.
Huren dagegen sind nichts wert, aber sie dürfen handeln. Oder deswegen. Sie greifen in das Geschehen ein. Sie führen ihn von der Straße in die Wohnung. Oder sie sind auf einen Zusammenbruch wegen einer Überdosis beschränkt. Aber sie existieren allein, während die Ehefrau nur begleitet oder das Kind betreut. Sonst sind die Huren meist nackt. Sie werden in Bildern à la Newton gezeigt. Und sie verführen. Tom Cruise/Dr. Harford tappt ihnen nach. Die eleganten Nutten in den hochhackigen Pumps und den bizarren Masken müssen für diese dramatische Freiheit zahlen. Alle Huren, die wir etwas näher kennen lernen in diesem Film, sind am Ende zerstört. Mandy/Julienne Davis stirbt an einer Überdosis. Domino/Vinessa Shaw testet HIV positiv und ist nicht mehr zu finden.
„Eyes Wide Shut“ ist ein Film mit einer Botschaft an den Mann. An den Mittelstandsmann. An den jungen Mittelstandsmann. Es ist die alte Botschaft, dass der Vater potenter ist. Diese Botschaft kommt auch aus dem vorigen Jahrhundert, und sie setzt die in Schnitzlers „Traumnovelle“ zusammengeronnen Fantasien von Geheimgesellschaften, katholisch-sadistischen Sexualwünschen und Klassendünkel in Film um. Für Schnitzler waren das Realitäten. Strenge Erziehung. Körperliche Bestrafung. Die Doppelmoral einer aristokratischen Klassengesellschaft. Zensur. Die Existenz von Geheimgesellschaften aller Art.
Theatralische Katholizität. Überväter in allen Bereichen. Herrn Schnitzler muss man konzedieren, von Männern in Frack und Maske und nackten Frauen mit Maske und hohen Stöckelschuhen zu fantasieren. Weihrauch und ein Richter/Priester in lila Brokat sind da fast notwendig. In New York. Ende des 20. Jahrhunderts wird das historisierende Läppischheit. Langweilig. Mummenschanz. Ganz sicher nicht erotisch. Aber ganz sicher ein Modell für Ausgrenzung. Sydney Pollack/Victor Ziegler: „Sie war nur eine Nutte. Sonst nichts. Und es ist ihr nichts passiert, was ihr nicht ohnehin geblüht hätte, nämlich nach Strich und Faden durchgefickt zu werden.“
In Kubricks Film gewinnen die Väter. Die Huren-Trophäen gehen an die Generation vor Tom Cruise/Dr. Harford. Sydney Pollack/Victor Ziegler, der fickt. Einige Besucher der blasierten Sexualchoreografie im „Orgienpalast“ ficken. Es sind Mitglieder der höchsten Gesellschaftskreise, wie Pollack/Ziegler Cruise/Dr. Harford aufklärt. Namen, die den kleinen Mittelständler nicht schlafen ließen. Cruise/Dr. Harford muss zum Frauli nach Hause zurück. Er wird in die Kleinfamilie zurück geschickt. Die große Welt, die bleibt den Reichen und Mächtigen vorbehalten. Aber es funktioniert für Cruise/Dr. Harford schon mit den kleinen Straßennutten nicht. Das erste Mal holt ihn der Anruf vom Frauli ein und zerstört die Stimmung. Das zweite Mal, gerade wenn er ein bisschen Herr der Situation ist, da muss er vom HIV-positiven Test der Dame vom Vorabend hören. Und wieder ist es nichts. Obwohl er durch den Anruf vom Frauli ja vor Aids bewahrt wurde. (Vielleicht doch Moral?!) Die tote Hure in der Pathologie. Die darf er küssen. Auf die bleiche Stirn. Auf die bleiche Frauenleichenstirn. Und dann klärt Pollack/Ziegler ihn über alles auf.
Eine traurige Figur. Tom Cruise/Dr. William Harford. Ein weiterer Odysseus auf den nächtlichen Straßen der großen Stadt. Am Ende des Jahrhunderts der vielen Odysseen der Moderne. Aber er ist kein Held mehr. Das hat er aus diesem Jahrhundert. Er akzeptiert, dass andere abgeführt werden, damit er sicher ist. Er akzeptiert das Menschenopfer der Hure, die an seiner Statt abgeführt wird. Nackt wird sie von einem Mann in Vogelmaske und der Uniform des Abends, dem schwarzen Umhang, abgeführt. Cruise/Dr. Harford lässt es geschehen. Es führt nicht zu mehr als einem Weinkrampf und einem Geständnis dem Frauli gegenüber.
Es ist doch immer wieder erstaunlich, wie viele Personen in Filmen, Theaterstücken, Romanen sterben müssen, um ein ganz normales Beziehungsgespräch auszulösen. Es müsste einmal die Verhältnismäßigkeit der Mittel besprochen werden. Bei Kubrick jedenfalls ist die Hure dann tot, und das Ehepaar spricht wieder miteinander. Wird vielleicht auch ficken. Reicht das?
Die „erotischsten Bilder“ waren in „Eyes Wide Shut“ nicht zu finden. Spießige Bilder spießiger Fantasien. Das liegt wohl auch daran, dass Erotik einen spielerischen Zug haben muss. Und wahrscheinlich einen Hauch von Zärtlichkeit. Spiel und Zärtlichkeit existieren außerhalb der Einteilungen von Haben und Nichthabne. In diesem Film geht es aber um die gute altmodische Unterwerfung in Besitz. Um Inbesitznehmen von Personen. Deshalb auch die Huren, deren Inbesitznahme durch Bezahlung klar beschrieben werden kann. In der hier vorliegenden Freier-Ästhetik geht es um Fantasien, deren Wurzeln im Sadistischen zu suchen sind. Es geht um Macht und manchmal um Sex. Um ziemlich ornamentalen Sex. Nur um Erotik geht es nie. Wie auch, wenn nur das eine Geschlecht existiert.
Wie um die letzte Jahrhundertwende wird die anständige Frau zum unerreichbar Drohenden und muss mit Hilfe ihrer käuflichen Geschlechtsgenossinnen und Zerstörungsfantasien niedergerungen werden. Nur. Dass eben nur die Reichen und Mächtigen in den Genuss dieses Auswegs in dieser Befreiung kommen können. Mittelstand ist dafür zu ängstlich. Und zu langsam. Fin de siècle. Ein Jahrhundert zurück. Und damit ist in den Fantasien auch alles an Vorstellungen enthalten, was in diesem Jahrhundert zu allem geführt hat.
„Eyes Wide Shut“ wird sich rasch vergessen lassen. Man ist auf diesen Film nicht angewiesen. Sollte es um eine Orgie im Film gehen, gibt es nach wie vor „La dolce vita“. Und wenn es darum geht zu begreifen, was ein alter Mann in einem letzten Film noch alles erzählen will, dann sieht man wieder einmal John Hustons „Dubliners“ an.
„Eyes wide shut“. Regie: Stanley Kubrick. Mit Tom Cruise, Nicole Kidman, Sydney Pollack u. a. England 1999, 159 Minuten
Marlene Streeruwitz schreibt Theaterstücke, Hörspiele und Romane und lebt in Wien. Ihr jüngster Roman „Nachwelt.“ erscheint im Herbst bei S. Fischer.
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