: Auch in Athen bebt die Erde
Im Unterschied zur Türkei hat Griechenland aus früheren Katastrophen Konsequenzen gezogen. Schutzmaßnahmen für die Bevölkerung und Bauvorschriften wurden verschärft ■ Von Niels Kadritzke
Berlin (taz) – Athen ist noch einmal davongekommen. Am Tag nach dem Erdstoß mit der Stärke 5,9, der am Dienstag vor allem die nördlichen Vororte erschütterte, lautet die vorläufige Bilanz 53Tote und über 1.500 Verletzte. Die Bebenfolgen sind so begrenzt geblieben, dass man alle Namen der Toten,Verschütteten und Geretteten im Fernsehen verlesen konnte. Was bei den biblischen Ausmaßen der türkischen Bebens vor drei Wochen völlig unvorstellbar gewesen wäre.
Bei allen Unterschieden hängen die beiden seismischen Ereignisse wahrscheinlich eng zusammen. Bis ins nördliche Attika reicht die Bruchzone, die sich von der Nordwesttürkei über die Inselgruppe der Sporaden und Euböa nach Südwesten zieht. Das Athener Beben könnte damit die Dominotheorie bestätigen, wonach die eruptiven Verschiebungen im Bereich des Marmarameeres eine Serie schwerer Erdstöße weiter westlich auslösen könnten. Die unterschiedlichen Schadensbilanzen erklären sich vor allem mit der gut doppelten Stärke des türkischen Bebens. Aber es zählen nicht nur die Grade auf der Richterskala. „Der Staat ist präsent und er funktioniert“, lautete die Botschaft, die Ministerpräsident Simitis noch in der Nacht vor der zerstörten Plastikfabrik Ricomex in die Fernsehkameras diktierte.
Auf seismische Katastrophenfälle ist der griechische Staat besser vorbereitet. Nach dem Beben von Thessaloniki 1978, das erstmals ein griechisches Ballungsgebiet traf, entstand ein denzentralisierter Katastrophenschutz, dessen Einheiten jetzt nach Athen beordert wurden und innerhalb 24 Stunden fast 100 Verschüttete lebend bergen konnten. Auch die antiseismischen Bauvorschriften, die man schon nach dem schweren Erdbeben von 1953 auf den Ionischen Inseln eingeführt hatte, wurden verschärft und strenger kontrolliert. Auffällig ist, dass die meisten Toten unter Gewerbebauten liegen, die erst vor kurzem errichtet wurden. Hier scheinen die staatlichen Kontrollmechanismen eklatant versagt zu haben.
Auch deshalb muss man in Athen die Legitimationskrise des türkischen Staates als warnendes Beispiel vor Augen haben. Noch in der Nacht zum Mittwoch wurden Ingenieure und Staatsanwälte eingesetzt, um die eingestürzten Häuser und Fabriken nach Baumängeln zu untersuchen. Seit dem Morgen werden die geschädigten Gebäude klassifiziert: Die abrissbedürftigen mit roten, die reparaturbedürftigen mit gelben, die gefahrlos benutzbaren mit grünen Zeichen.
Der geölte Katastropheneinsatz ist für die Regierung eine gute Chance, ihre propagierten Modernisierungsfortschritte in der Praxis vorzuführen. Wenn Simitis noch in der Nacht mit vier seiner Ministern im Epizentrum der Bergungsarbeiten auftauchte, dachten viele Griechen gewiss an das Verhalten seines Vorgängers Andreas Papandreou zurück. Als vor 13 Jahren die Stadt Kalamata auf dem Peloponnes durch ein Erdbeben verwüstet wurde, setzte er den Segeltörn mit seiner späteren Gattin Dimitra fort.
„Jetzt hilft nur noch ein Erdbeben“, lautet der traditionelle Stoßseufzer der Griechen, wenn sie eine verfahrene Lage beklagen. In diesem Sinne könnte das Erdbeben der Regierung Simitis auch außenpolitisch weiterhelfen. Nach der Solidaritätswelle für die türkischen Erdbebenopfer, die den Griechen in Istanbul und Izmit so viele Sympathien eingebracht hat, geht die Verbrüderung jetzt in den Athener Ruinen weiter. Eines der ersten ausländischen Hilfsteams entsandte die türkische Organisation AKUT, die in einer Transportmaschine der türkischen Luftwaffe aus Ankara eintraf.
Im Bewusstsein vieler Griechen und Türken schafft die jetzt erfahrene Notgemeinschaft – „wir sitzen alle auf derselben seismischen Bruchzone“ – neue Fakten, die auch nationalistische Politiker respektieren müssen. Das gilt für die politisch-militärische Elite in Ankara in einem ganz besonderen Sinne: Die türkischen Bürger werden sorgfältig registrieren, dass Griechenland nicht auf freiwillige Erdbebenhilfe angewiesen ist. Als EU-Land hat es Anspruch auf die Brüsseler Katastrophenhilfe.
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