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■ Waltraud Schoppe: Die Orgiastische

Es war ein selten stiller Augenblick im Hohen Haus. Die Aussprache über Helmut Kohls Regierungserklärung am 5. Mai 1983 war für die Parlamentarier bis dahin mäßig amüsant gewesen. Die grüne Abgeordnete Schoppe redete zur Frauenpolitik. Gerade hatte man das Schnarchstadium des Nickerchens erreicht, da fiel der Satz, der atemlose Stille folgen liess: Unsere normierten Lebensverhältnisse führten dazu, dass „sich Menschen abends hinlegen und vor dem Einschlafen eine Einheitsübung vollzieht, wobei der Mann meist eine fahrlässige Penetration durchführt.“ Pause – dann Gelächter und Entrüstung.

„Fahrlässig, weil die meisten Männer keine Maßnahmen zur Schwangerschaftsverhütung ergreifen“, fährt Schoppe fort, ein Argument für die Streichung des Paragrafen 218 ableitend. „Eine wirkliche Wende wäre es, wenn hier oben zum Beispiel ein Kanzler darauf hinweisen würde, dass es Formen des Liebesspiels gibt, die lustvoll sind und die Möglichkeit einer Schwangerschaft gänzlich ausschliessen. Aber man kann natürlich nur über das reden, wovon man wenigstens ein bisschen was versteht.“

Der Höhepunkt des Tumultes ist erreicht. „Das Liebesparlament“, rufen die schenkelklopfenden Abgeordneten. Lachsalven schütteln Abgeordnetenbäuche. Schoppe hat getroffen: Den Sex von der Herrentoilette aufs Podium des Parlaments gehoben. So klingt es, wenn die Frauenbewegung im Bundestag ankommt.

Dabei ist die damals 41-jährige Lehrerin keine Provokateurin aus Leidenschaft, sondern Reala. Zwei Kinder hat sie erzogen, ehe sie über den zweiten Bildungsweg studierte. Gegen die Radikalfeministinnen, die die klassische Mutterrolle als patriarchalen Frondienst ablehnten und Mütterpolitik deshalb unter CDU abhakten, betrieb sie Familienpolitik mit den klassischen Themen Erziehungsurlaub und Teilzeit für Berufsrückkehrerinnen. Heute ist das Mainstream auch grüner Frauenpolitik. Vor einem Jahrzehnt, als sie in Niedersachsen Frauenministerin wurde, ein immerwährender Streitpunkt mit den oft kinderlosen Parteifeministas. Ab 1994 saß sie für eine letzte Legislaturperiode erneut im Bundestag. Zum Abschied stellte sie 1998 eine gewisse Wirkung sexualpolitischer Lektionen wie der ihrigen fest: Die Männer seien, so drückte sie vorsichtig aus, „allgemein über Fragen der Geschlechterpolitik gebildeter“. Heide Oestreich

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