: Zum ersten Mal Noten
■ Zensuren gab es nie an den renommierten Experimentalschulen in Bielefeld – bis ein Staatssekretär mit „Ungenügend“ gratulierte
Bielefeld (taz) – Der Mann gab sich wissbegierig. Er habe, so berichtete Wolfgang Meyer-Hesemann, sich einst einen Satz zum beruflichen Motto erkoren: „Von wirklich großen Pädagogen lernen – zum Beispiel von Hartmut von Hentig!“ Nun waren alle gespannt. Schließlich ist Meyer-Hesemann inzwischen Staatssekretär in Nordrhein-Westfalens Bildungsministerium, dem größten der Republik. Und war er doch nach Bielefeld gekommen, um den beiden renommiertesten Experimentalschulen des Landes Glückwünsche zu überbringen. Zum 25-jährigen Jubiläum von Laborschule und Oberstufenkolleg.
Der smarte Staatssekretär aber verteilte, was die beiden an die Uni Bielefeld angeschlossenen Musterschulen stets ablehnten: Noten. Die Schulen hätten gewiss ihre Fangemeinde, verteilte Meyer-Hesemann die Zensur „Ungenügend“, „aber sie sind kein Stachel im Fleische mehr“. Ganz unfeierlich fuhr der Regierungsbeamte fort: Es sei still geworden um die Schulen, und da wurde es auch bei der Feierstunde still.
Lehrer und Schüler, die Creme der Bildungsforscher und -politiker wie der Pädagoge Wolfgang Klafki oder der ehemalige Vorsitzende der Kultusministerkonferenz, Rolf Wernstedt, sahen sich an und begannen zu tuscheln. Immerhin ahmen tausende deutsche Schulen die in Bielefeld vorexerzierten Lernmodelle nach – sofern die Kultusbürokraten sie denn lassen. Das jüngste Beispiel ist das frühe Fremdsprachenlernen. Was die Abc-Schützen der Laborschule vor Jahren begannen, erreicht jetzt die Grundschulen Niedersachsens und Berlins. Andere Beispiele sind die „kritische Koedukation“ – das zeitweise gemeinsame Lernen von Mädchen und Jungen. Oder Praktika, die heute überall zum Schulalltag gehören – von der Wirtschaft genau wie von der Pädagogik begrüßt. Auch dafür war die Laborschule, zusammen mit anderen, Vorbild.
Staatssekretär Meyer-Hesemanns beinahe einziges Wort der Anerkennung war dieses: Im Düsseldorfer Bildungsministerium sei man froh, „dass wir uns die Bielefelder Schulprojekte 25 Jahre geleistet haben“. Und sprach von der Notwendigkeit, „sich neu zu profilieren“. Dann schwieg der Bildungsstaatssekretär, um seinem Idol zu lauschen: Hartmut von Hentig, Gründer der Experimentalschulen und Festredner. Hentig beglückwünschte die Geburtstagskinder und verteilte kleine Geschenke („weil man den Onkel liebt, der was mitbringt, und nicht die Tante, die schlaue Reden hält“). Und dann zeigte Hentig, dass auch die von ihm mit geprägte Reformpädagogik mit Argumenten und Zeigefinger zu arbeiten im Stande ist. „Ich werde dazu jetzt nichts sagen“, wandte er sich an den verdutzten Ministerialen Hesemann, „aber wir sehen uns später in der Beiratssitzung!“
Ohne die Rede des Staatssekretärs gekannt zu haben, beharrte Hentig auf dem Profil der Schulprojekte. Denn die neuen Probleme der Institution Schule lägen daran, dass sie ihr altes nicht gelöst habe: Wie sie mit dem ungeheuren Wissen umgehen solle. In Bielefeld aber werde nicht gepaukt, sondern „der rechte Gebrauch des Wissens“ vermittelt: Wahrnehmen, Denken, Prüfen, Verstehen. Christian Füller
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