: Zurück ins Bett
Gerechter Goldener Löwe für Zhang Yimou. Doch in der Breite erwies sich der Film in Venedig als Verschwörung gegen das Leben. Keine Aktualität, kein Appeal, bloß viel explizit fotografierte Frauen ■ Von Brigitte Werneburg
Zhang Yimou hat mit „Not One Less“ den Goldenen Löwen der 56. Mostra Internazionale d'Arte Cinematografica gewonnen. Er wünsche allen Kindern eine glückliche Kindheit, liest man in der Agenturmeldung von Zhang, „dessen Film das Schicksal eines Jungen erzählt, der zur Arbeit in einer chinesischen Stadt gezwungen wird“. Merkwürdig. Ich hatte geglaubt, einen Film über ein Mädchen zu sehen. Ein dreizehnjähriges Mädchen, das selbst arbeiten und Geld verdienen muss. Um den Lohn ihrer Arbeit zu erhalten, darf sie, die kleine untaugliche Aushilfslehrerin, keinen ihrer Schüler und keine ihrer Schülerinnen verlieren. Aus diesem und keinem anderen Grund wird sie unverdienterweise zur Heldin, die den zehnjährigen Zhang Huike vor der Kinderarbeit rettet. Wobei sie sich, und das schien mir der Clou der Geschichte, über dieses Abenteuer am Ende sogar zu einer guten Lehrerin entwickelt.
Das Missverständnis um den Plot von Zhang Yimous Film erinnert mich an ein Gespräch auf einer der venezianischen Gardenpartys. Es ging um den Film „Les Amants criminels“ von François Ozon, in dem die Flucht zweier mörderischer Kids eine bizarre Wendung erfährt, die tief in den Wald und in eine Atmosphäre hinein führt, die inzwischen seltsam an „The Blair Witch Project“ anzuknüpfen scheint. Der hochgeschätzte österreichische Kollege und ich waren uns also einig, „Les Amants criminels“ zu den interessanteren Erfahrungen von Venedig zu rechnen, wobei der Kritiker zuletzt bedauernd meinte, es sei um das misogyne Ende schade, das wieder einmal zeige, „dass die Frauen im Leben nichts zu suchen haben“. Worauf ich nur sagen konnte: „Aber ich bitte Sie. Im Leben haben die Frauen sehr wohl etwas zu suchen, ich glaube, sie haben inzwischen im Leben sogar etwas zu sagen. Nur im Kino haben sie nichts zu suchen. Da haben Sie recht.“
Das Kino scheint eine Verschwörung gegen das Leben zu sein. Das ist die Erkenntnis von zehn Tagen geballter Ladung bewegter Bilder. Sie könnte aufregend sein, diese Erfahrung. Wenn das Kino eine Verschwörung zugunsten der Möglichkeiten des Leben und eine Verschwörung gegen seinen Stillstand wäre. Wenn es wenigstens die Verschwörung zugunsten des gesellschaftlichen und ästhetischen State of the Art des Lebens heute wäre. Aber das Kino ist eine Verschwörung gegen das heutige Leben. Es ist – und nicht es handelt von – Rückschritt und Ausschluss, massenwirksam inszeniert. Am meisten fällt dies bei der Filmmusik auf. Das Kino von heute will partout nicht die Musik von heute kennen. Wenn nicht gerade die übliche Orchestersoße unsere Ohren quält, dann sind es Siebzigerjahre-Oldies. Man möchte es nicht glauben, aber man fühlt sich dann geradezu erfrischt, wenn Woody Allen mit dem Swing der 30er und 40er Jahre aufspielt.
Nach der Filmmusik wird die Verschwörung des Kinos gegen das Leben, sein Ausschlusswunsch, seine Zensur, tatsächlich an der Rolle der Frauen deutlich. In dieser Hinsicht ist Stanley Kubrik, was das Kino betrifft, auf der Höhe der Zeit, wenn er Schnitzlers 19. Jahrhundert verfilmt. Was die Frauen im Film angeht, so träumt das Kino nur eine einzige Novelle, besser olle Kamelle, und die heißt: zurück für alle Zukunft. Vor allem zurück ins Bett. In die Arme des Mannes, das lässt sich heute dann glücklicherweise etwas expliziter fotografieren als in früheren Tagen, auch wenn es doch nur zu konvulsiv zuckenden Oberkörpern in der üblichen Missionarsstellung führt. Die Frau ist ihr Körper. Und sie ist Dekor. Ihre Geschichte wird nicht erzählt, bei Kubrick nicht und nicht bei Phillipe Garrel, und wenn sie mal bei einem kleinen Mädchen erzählt wird, dann liest man, dass es doch die des kleinen Jungen war.
Philippe Garrel erklärte zu seinem Wettbwerbsbeitrag „Le vent de la nuit“, er wollte unbedingt einen Film mit Catherine Deneuve machen. Also spielt sie nun eine ältere Frau, der Garrel einen sehr viel jüngeren Liebhaber gönnt. Kurz: Garrel fiel nichts zu ihr ein. Als ihm das auffiel, erzählte er eben von den Männern. Ihr Liebhaber Paul trifft dann sehr plötzlich auf den Architekten Serge, und bei einer Autofahrt von Neapel nach Paris sowie einer weiteren Reise von Paris nach Berlin und wieder zurück kommen sie dann ins Gesprächs. Der junge Mann fragt den heute alten Mann nach seinem Leben als junger Mann aus. Das war im Mai 1968. Der junge Mann fragt schließlich auch nach den Drogen von früher: „Und eure Freundinnen, die haben auch LSD genommen?!“ Es ist dies keineswegs die peinlichste Dialogzeile jener Konversation im roten Porsche (70er-Jahre-Modell). Das Kino ist auch eine Verschwörung gegen die Männer. Denn sie sind sämtlich Schwätzer. Im Kino. Nicht im Leben.
In einem der zuletzt gezeigten Filme, der von dem seit „Seven“ mit Kultstatus gebenedeiten Regisseur David Fincher stammt, gibt es eine hinreißende Szene, in der „Der Erzähler“ (Edward Norton) in seiner Angestelltenexistenz vorgestellt wird. Kaum sagt er, dass er der typische „Ikea“-Anhänger sei, füllt sich prompt sein Appartment mit den bekannten „Bonde“-Kombinationen, „Robin“-CD-Regalen, „Åbo“-Musikmöbeln, den „Faktums“ und „Ivars“, und dazu sind die „Warum – darum“ Beschreibungen eingeblendet, genau wie im Katalog. Aber es ist nicht der Katalog, den wir sehen, sondern ein aufwendig gebauter Filmset. Und eben das macht die Sache so großartig: „Just what is it, that makes today's homes so different, so appealing?“ Die große Frage der Kunst, die Richard Hamilton nun auch schon vor mehr als vierzig Jahren mit dem Wort „Pop“ beantwortete. Doch dann folgt in „Fight Club“ der Schnitt, und schon findet sich der Held in einer düsteren Sporthalle wieder, in der sich die Selbsthilfegruppe der Männer mit Hodenkrebs trifft. Wieder sind wir in der altbekannten Kulisse des Film noir gelandet und unsere Interesse erlischt so schnell wie es sich entzündete.
Wir würden ja so gerne entflammen. Nur woran soll sich unser Wunsch nach Begeisterung festmachen? Die große Einsamkeit von Philippe Garrels Helden, die angeblich ihresgleichen sucht, ist es nicht. Zumal die Ahnung, dass wir sie genauso schon gesehen haben könnten, etwa bei Antonioni, jeden Bildpunkt seiner Leinwand markiert. Das muss uns Martin Scorsese in „La dolce cinema“ seiner Dokumentation über das italienische Kino, die die 56. Mostra beschloss, gar nicht mehr erzählen. „Just what is it, that makes today's MOVIES so different, so appealing?“ Diese Frage blieb in Venedig unbeantwortet.
Auch die Preisträger konnten die Frage nicht beantworten, denn sie ging sie nichts an. Ihre Filme siedelten in der Ungleichzeitig der Provinz. Und wie soll die Provinz ausgerechnet in ihren Ländern den Anschluss an das moderne Leben haben? Doch ausgerechnet bei Abbas Kiarostamis „Le vent nous emportera“ ist es per Handy präsenter als in jedem anderen Film. Es ist der Dreh- und Angelpunkt gemacht, an dem sich der Slapstick und die Kontemplation des Sehens auf einzigartige Weise ineinanderfügen. Der Große Preis der Jury war hier so wenig falsch wie der Goldene Löwe für Zhang Yimou. „Not One Less“ muss nicht unbedingt der Propagandafilm für ein totalitäres Regime sein, als der er wegen des Happyends mit einigen erbaulichen Parteiparolen vielfach gerügt wurde. Man kann sich für das Drama der Kinder in der armen Provinzschule entscheiden, das Drama der dreizehnjährigen Wei Mingzhi, der Laiendarstellerin, die in ihrer bäuerischen Sturheit die große Leinwand absolut beherrscht, und die sogar gegen die grandiose Landschaft ankommt, die Zhang Yimou von seinem erklärten Vorbild Kiarostami abgekupfert hat. Und letztlich ist das Ende zu schön, um wahr, um also nicht Satire zu sein.
Der neue Direktor der 56. Mostra, Alberto Barbera, hatte zu Beginn der Filmfestspiele noch gemeint, die Festivals seien alt geworden, man müsse sie neu erfinden. Doch scheinbar ist das Kino so schrecklich alt geworden. So wie es der nostalgische Blick zu Eröffnung mit Kubrick und zum Schluss mit Scorcese bedeutete. Es ist Zeit, es neu zu erfinden.
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