: Heute ist gestern
Inge Deutschkron überlebte die Nazis, ging wegen der 68er, kam zurück und stimmt Bubis zu: „Was hat er bewirkt?“ ■ Von Annette Rollmann
In dem hellen Wohnzimmer der Westberliner Neubauwohnung ist die Gegenwart zu Hause. Die moderne, weiße Schrankwand, die Rattanstühle, der Couchtisch aus Glas. Die Sicht durch das Panoramafenster im zehnten Stock über die grünen Wipfel der Stadt bis hin zu den Baukränen des neuen Berlins ist ein Blick auf das Jetzt. Scheinbar. Dahinter verbirgt sich die Vergangenheit, die das Leben von Inge Deutschkron bis heute bestimmt: Sie ist zusammen mit ihrer Mutter als versteckte Jüdin in Berlin der drohenden Deportation in die Vernichtungslager entkommen. „Auf seinem Totenbett, das war 1982, hat sich mein Vater bei mir entschuldigt, meine Mutter und mich nicht schnell genug aus Deutschland herausgeholt zu haben“, sagt die 77-Jährige. Er konnte noch kurz vor Kriegsbeginn nach England fliehen. Für einen Moment verändern sich die Züge in dem sonst so beherrschten Gesicht. Aber sie richtet nicht. „Er hätte sich nicht entschuldigen müssen. Er hat ja alles versucht.“ In keinem Moment lehnt sie sich in ihren Rattanstuhl bequem zurück. Sie bewahrt Haltung.
Und dann erzählt sie von der Angst der Menschen, die sie und ihre Mutter auf der Suche nach einem sicheren Versteck wegschickten: Zurück auf die Straße, immer auf der Hut vor der Gestapo. „Aber es gab auch sehr gute Menschen. Sonst hätten wir nicht überlebt“, sagt sie, couragiert, mutig. So, wie sie selbst vielleicht ist, denkt man.
Einer von ihnen ist Otto Weidt. Er war der Leiter der Blindenwerkstatt in der Rosenthaler Straße in Berlin-Mitte. Inge Deutschkron fand in dem „wehrwichtigen“ Betrieb eine Stelle. So hoffte sie, der drohenden Deportation entgehen zu können. In ihrem Buch „Ich trug den gelben Stern“ schreibt sie: „Im Seitenflügel des Hinterhauses stieg ich eine wackelige Holztreppe hinauf und trat in einen kärglichen eingerichteten Büroraum. Dort sah ich Weidt, schlank ja hager eigentlich ... Seine blauen Augen waren fahl. Dennoch hatte ich den Eindruck, als sähe er mich durchdringend an.“ Weidt, selbst kein Jude, rettete ihr wie einigen anderen das Leben. „Als ich 1988 das erste Mal wieder hierher kam, war alles wie damals. Ich ging die Holztreppe hinauf, und die Stufen knarrten wie damals. Oben dann waren noch genau die gleichen, weißen Schleiflackwände wie früher.“ Sie zupft an ihrem hellen Sommerkleid. Dann beugt sie sich vor: „Können Sie das verstehen? An dem Abend hab' ich mich fürchterlich betrunken.“
Vor wenigen Wochen haben Studenten drei Räume von Schutt frei geschaufelt. Sie waren zu DDR- und Nachwendezeiten offenbar einfach vergessen worden. Einer der drei Räume war das Versteck der Familie Horn. Der Raum ist unverändert. Inge Deutschkron steht vor derselben Tapete, vor demselben Kachelofen. Damals hatte Chaim Horn aus Naivität einem Bekannten von dem Versteck berichtet. Der Bekannte war ein Spitzel. Am nächsten Tag kam die Gestapo und holte alle ab. Inge Deutschkron hatte Glück: Sie war im letzten Moment gewarnt worden. Diese Räume werden jetzt zum „2. Tag der Zeitgeschichte“ am 18. und 19. September erstmalig einer breiteren Öffentlichkeit gezeigt. Das Versteck ist das einzige erhaltene in Berlin.
Inge Deutschkron versuchte nach dem Krieg und einigen Jahren in England im neuen westdeutschen Staat Fuß zu fassen. Während der 50er- und 60er-Jahre arbeitet sie als Korrespondentin für die israelische Tageszeitung Maariv. Für viele Kollegen war sie unangenehm, ja unbequem. „Sie grenzten mich aus“, erinnert sie sich. Doch den herablassenden Herren mit ihren dicken Zigarren, darunter manche Altnazis, war sie häufig argumentativ überlegen.
Inge Deutschkorn ist inzwischen israelische Staatsbürgerin. 1972 emigrierte sie nach Israel. Nicht wegen der Ressentiments der Männer in dem harten Mediengeschäft, auch nicht wegen der Altnazis. Sie verließ Deutschland wegen der 68er. Damals änderte sich die bis dahin neutrale Haltung der deutschen Linken gegenüber dem israelischen Staat. „Die Studentenbewegung glaubte, Israel sei ein von Amerika gesteuerter imperialistischer Staat“, und noch heute erregt sie sich „über diese Dummheit und Naivität“.
Heute ist Inge Deutschkron die meiste Zeit im Jahr in Deutschland. Sie wird viel zu Lesungen und Diskussionen in Schulen eingeladen. „Das Interesse ist viel größer als vor fünfzehn Jahren. Mittlerweile unterrichtet eine andere Generation.“ Nur im Osten sei es schwer. „Manchmal sind in den Klassen die Gesichter richtig zu, wenn ich hereinkomme. Beim verordneten Antifaschismus der DDR sei die Judenverfolgung kaum Thema gewesen.
Die Journalistin hat immer noch eine Wohnung in Tel Aviv, die sie als „Rückversicherung“ brauche. Denn verfolgt wird sie in Deutschland immer noch: „Ich gehöre wieder zu den gefährdeten Personen.“ Inge Deutschkron wechselte in Berlin die Wohnung, wieder steht nicht ihr wahrer Name am Klingelschild. „Warum gibt es keinen Aufschrei?“
Dennoch ist sie in Deutschland erneut fest verwurzelt. Manchmal sei sie so glücklich wie in ihrer Kindheit, sagt sie: Sie habe eine neue „Familie“ gefunden. Sie nennt es ihr viertes Leben. Es ist das Ensemble des Grips-Theaters. Der Leiter Volker Ludwig sprach sie 1988 an, um ihr Leben als Theaterstück auf die Bühne zu bringen. „Ab heute heißt du Sara“, wird seit über zehn Jahren mit großem Erfolg aufgeführt. Mit Nina Lorck-Schierning, der ersten „Inge“-Darstellerin, ist sie befreundet. Die Lust auf Leben treibt Inge Deutschkron weiter. „Neulich habe ich mit Freunden die alten Lieder geschmettert.“ Es sind die sozialistischen Kampflieder ihrer Kindheit wie „Die Internationale“. Sie liebt das Gefühl von Solidarität, von der Gemeinschaft der Sozialdemokraten alter Prägung. „Man muss doch Ideale haben.“ Eine Voraussetzung zum Überleben.
So sehr sie das Leben bisweilen unbehaust durch die Welt treibt, so wenig führte es sie zum Glauben. Gleichwohl, sie versteht die Äußerungen des gerade verstorbenen Vorsitzenden des Zentralrates der Juden in Deutschland, Ignatz Bubis. Er war lange Zeit ebenso wenig gläubig, wie sie es ist. „Ja, er hatte Recht. Was hat er denn bewirkt?“ Und sie antwortet mit den gleichen resignativen Worten wie Bubis: „Nichts, fast nichts.“ Die Leichtfüßigkeit, die Bubis vorher vermittelt habe, gebe einen falsche Eindruck wieder. „Er hat alles verdrängt und überdeckt.“ Und sie macht das an einem Beispiel über sich selbst deutlich: „Wieso werde ich ständig als Berliner Jüdin bezeichnet?“, fragt sie. Niemand würde von einer Berliner Katholikin sprechen. Und gerade das Jüdischsein, die einmalige Geschichte des Genozids, trennt sie von jedem religiösen Ritus. Sie feiert den 1. Mai und Silvester. Jom Kippur, das höchste religiöse Fest der Juden, begeht sie nicht. „Nach Auschwitz kann man nicht mehr glauben.“ Sie sagt es fast beiläufig. So, als täte es ihr dann nicht mehr so weh.
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