■ Viele rechtsradikale Gewalttäter im Osten haben kein Unrechtsbewusstsein. Denn was sie tun, ist, was die Mehrheit will: Neue Mitte, alter Rassismus
Im März wurde im brandenburgischen Schwedt ein Asylbewerber niedergestochen. Ein 19-Jähriger hatte zusammen mit anderen Jugendlichen auf einem Balkon gestanden, als zwei „ausländisch aussehende“ Männer vorbeigingen. Spontan rief er „Den Türken stech ich ab“, griff sich in der Küche ein Messer und lief auf die Straße. Dort rammte er einem der beiden Passanten dieses so heftig in den Rücken, dass es abbrach. Bei der Verhaftung zeigte der junge Mann keinerlei Reue, im Gegenteil, er betonte, dass er auch noch die zweite Person niedergestochen hätte, wäre das Messer nicht zerbrochen.
Zweifelsohne ist dies eine Horrorgeschichte, aber nichtsdestotrotz erscheinen zwei Dinge daran für die Gewalt gegen Migranten im Osten ganz typisch. Zum einen die Spontaneität der Tat: Zwischen dem Anblick des „Auslösers“ und der Ausführung gab es keine Barriere, keinen Gewissenskonflikt oder Ähnliches. Zum anderen das mangelnde Schuldbewusstsein: Der Angreifer fühlte sich so gerechtfertigt, dass er anschließend meinte, er habe noch nicht genug getan.
Nun hat es für Ereignisse dieser Art in den letzten Jahren allerlei Erklärungen gegeben. Zum Beispiel wurde behauptet, junge Männer wie dieser seien irre Einzeltäter. Allerdings gibt es mittlerweile wohl ein paar solcher Fälle zu viel, als dass diese These noch glaubhaft wäre. Dann wurde gesagt, es handele sich um Jugendliche, die mit der Desintegrationserfahrung der modernen Gesellschaft nicht zurecht kämen und daher bei einfachen Weltbildern und Schuldverteilungen unterschrieben. Oder man bemühte als Erklärung Erziehungsdefizite in der Ex-DDR.
Manchmal aber auch einfach nur die allgemeine Perspektivlosigkeit. Schließlich wurde mehr und mehr die Anthropologie beschworen: Unter dem schmalen Firnis der Zivilisation bräche sich heute wieder eine barbarische Aggressivität Bahn – kaum noch im Zaum gehalten von einer sich auflösenden Tradition.
Doch all diese Erklärungen gehen letztendlich davon aus, die Opfer dieser Gewalt seien völlig zufällig.
Nun hat Diedrich Diederichsen vor kurzem an dieser Stelle dankenswerterweise darauf bestanden, dass die rechte Jugendkultur im Osten vor allem eines ist: „präzis rassistisch“. Insofern müssten Erklärungen wohl auch die Frage beantworten, warum sich die Gewalt in erster Linie gegen Migranten richtet und nicht gegen Wessis, Arbeitsämter, ausbeuterische Chefs oder japanische Unternehmer. Tatsächlich deuten Spontaneität, das mangelnde Schuldgefühl und die Deutlichkeit des Ziels weniger auf ein Versagen zivilisatorischer Bindungen hin als vielmehr darauf, dass die jungen Männer ihr Verhalten für absolut legitim halten. Bereits Anfang der Neunziger sahen sich die Jugendlichen als Avantgarde im Abwehrkampf gegen Flüchtlinge. Wie Untersuchungen zeigten, glaubten die meisten, stellvertretend für andere Bevölkerungsgruppen zu handeln, und sie rechneten fest mit breiter Unterstützung. Dieses Bewusstsein formte sich aus einer Mischung von Gerüchten, Gesprächen und Medienberichten, woraus sich immer wieder ein Bild der Bedrohung durch „Ausländer“ ergab.
Daher scheint folgende These plausibel: Die rassistische Gewalt ist eben kein Anzeichen von Desintegration, sondern eine Form der Überintegration in die Gesellschaft. Indem die jungen Männer Gewalt gegen „Ausländer“ anwenden, fühlen sie sich symbolisch als Bestandteil der „Mitte“. Und tatsächlich bietet diese „Mitte“ die Migranten als „Ziel“ förmlich an.
Wir erinnern uns: Die erste Reaktion auf die rechte Gewalt war die faktische Abschaffung des Asylrechts. Seitdem wird die Grenze nach Polen – unter Beteiligung eines Teils der ansässigen Bevölkerung (denunzieren, patrouillieren) – bewacht wie weiland die Berliner Mauer.
Darüber hinaus verschärfte die Regierung seit Beginn des Jahrzehnts x-mal unter großem Trara das Ausländerrecht – insbesondere gegen „kriminelle Ausländer“. Trotz eines erwiesenermaßen negativen Wanderungssaldos betonte Otto Schily kaum nach Amtsantritt, die „Grenze der Belastbarkeit“ sei überschritten. Illustriertentitel lauten „Gefährlich fremd – das Scheitern der multikulturellen Gesellschaft“ oder „Nach den Kurden-Krawallen – Die Angst der Deutschen“. Also: Warum sollten sich die jungen Rassisten nicht im Recht fühlen? Ihr einziger Fehler scheint darin zu bestehen, sich im falschen Medium zu äußern – der Gewalt.
Im Grunde unterscheiden sich die jungen Männer überhaupt nicht von Mitgliedern der „Neuen Mitte“. Sie haben keine expliziten politischen Vorstellungen, sondern lediglich ein diffuses Verlangen nach „sinnvoller“ Arbeit und Freizeitkonsum. Daher ist ihre Gewalt auch nicht massenhaft organisiert, sondern vielmehr individuell-seriell. Die Jugendlichen wollen Zugang zur Gesellschaft, und das heißt in erster Linie Zugang zum Konsum – einem Konsum, der Identität (und damit Zugehörigkeit) verschafft, indem er Unterschiede markiert.
Doch dieser Zugang ist für sie blockiert. Zum einen sicher durch mangelnde materielle Ressourcen. Zum anderen aber auch durch die Bilder, die in der „Mitte“ über den Osten kursieren: Die Jugendlichen wissen genau, dass man im Westen von ihnen nicht als Individuen denkt, sondern als schiere Masse proletarischer, lethargischer, vergangenheitsfixierter Ossis. Insofern verkörpert sich in der Gewalt gegen Migranten eine Reaktion auf eine Blockade: Die Gewalt ist „Action“, sie markiert einen Unterschied und sie vereint symbolisch mit der „Mitte“.
Dahinter allerdings verbirgt sich totale Sprachlosigkeit. Wer kennt sie nicht, die Bilder, in denen die jungen Männer mangels irgendeiner genauen Vorstellung vom Grund für ihre Taten entweder selbst wie Sozialarbeiter reden oder Phrasen über Deutschland dreschen? Tatsächlich hat die „Neue Mitte“ heute alle „alternativen“ kulturellen Artikulationsmöglichkeiten aufgesogen. Seitdem man sich dort ununterbrochen auf der Suche nach kulturellen Steinbrüchen befindet, hat man gleichzeitig die Marginalisierten ihrer Codes beraubt: So etwas wie eine eigenständige Arbeiterkultur oder Jugendkultur (oder auch DDR-Kultur) existiert nicht mehr – es sei den als Amüsement in Comedies oder als Tattoo am Arm eines mittelständischen Fit-for-Fun-Körpers. Alle haben das gleiche Wertesystem, alle wollen dasselbe, und ein Ausschluss ist absolut unerträglich.
In dieser klaustrophobischen Gesellschaft gehören die rassistische Gewalt und die Differenzkultur der „Neuen Mitte“ zusammen: Immer geht es darum, einen Unterschied zu markieren.
Mark Terkessidis
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