: Angeborene Mutterliebe gibt es nicht
Von Depression über Autismus bis Schizophrenie: 1000 WissenschaftlerInnen auf dem Parforceritt durch die Kinder- und Jugendpsychiatrie ■ Von Peter Ahrens
Essstörungen, Depressionen, Autismus, Beziehungsunfähigkeit – nicht unbedingt das, was man sofort mit kindlicher Lebenswelt verbindet. Doch all die psychischen Defekte, die seelischen Störungen und Krankheiten, mit denen Erwachsene zu tun haben, sind natürlich auch bei Kindern anzutreffen – und zwar mit steigender Tendenz. Das ist eines der Ergebnisse, die man vom Kongress für Kinder- und Jugendpsychiatrie mitnimmt, der von Mittwoch an bis gestern in Hamburg lief. Knapp 1000 WissenschaftlerInnen aus 43 Ländern haben ihre Erfahrungen dabei zusammengetragen.
Zum Beispiel zu den Beziehungen zwischen Mutter und Kind. Eine Beziehung, die Auswirkungen auf das ganze Leben haben kann – das weiss man. Aber viel mehr noch nicht. Gestörte Mutter-Kind-Beziehungen sind, erstaunlich genug, bis heute noch fast unerforscht. Eine Tatsache, die – so sagt der britische Psychiater Ian Brockington – Tausenden von Kindern das Leben gekostet hat, die Opfer von Gewalt in der Familie wurden und denen man hätte helfen können. Brockingtons Credo: Angeborene Mutterliebe gibt es nicht. Der Aufbau eines Verhältnisses zwischen Mutter und Kind sei genauso schwierig wie der anderer Beziehungen.
Überhaupt die Unfähigkeit zur Beziehung: Ein Schwerpunkt des Kongresses, denn auch Kinder selbst sind davon in steigendem Maße betroffen. Das sagt zumindest Prof. Peter Riedesser, Chefarzt der Kinder- und Jugendpsychiatrie am Hamburger Universitäts-Krankenhaus. Kinder, so sagt er, wissen heute über Umweltverschmutzung Bescheid, kennen die Gefahren im Straßenverkehr, aber es gebe auch eine „seelische Umweltverschmutzung“, denn die Psychologie werde von vielen Eltern bei der Erziehung „völlig außer Acht gelassen“. Dazu kommen kaputte Familien, Scheidungen oder häufige Schulwechsel – „all das kann erschreckende Folgen haben für die Fähigkeit, selbst gesunde Beziehungen aufzubauen“.
Die kindliche Seele braucht Hilfe, braucht Stützung – das, was banal klingt, zieht sich wie ein roter Faden durch alle Themenbereiche des Kongresses. Hubertus Adam, Oberarzt der Flüchtlingsambulanz am UKE, fordert gar einen „seelischen Marshallplan“ – den verlangt er allerdings für die Kinder und Jugendlichen auf dem Balkan, die durch jahrelangen Krieg psychisch schwer geschädigt seien. Kinder, die mitansehen, wie ihre Eltern gefoltert werden, wie ihre Verwandten ermordet werden – diese Kinder haben ihr Leben lang mit solchen Eindrücken zu tun. Dazu komme, so Adam, dass Kinder als Soldaten missbraucht wurden und auf diese Weise selbst zu Tätern wurden. Daher reiche es bei der Hilfe fürs Kosovo nicht aus, Kindergärten und Schulen wieder aufzubauen. Die Hilfe müsse tiefer gehen, müsse Psychologie und Psychiatrie einschließen.
Keine gute Kunde hatten die WissenschaftlerInnen bei den Krankheiten Schizophrenie und Autismus zu verkünden. Die Heilungschancen für Kinder, die unter Schizophrenie leiden, seien schlecht, sagt der Freiburger Psychiater Eberhard Schulz. Auch nach langjähriger Behandlung seien nur 20 Prozent der jungen PatientInnen symptomfrei, aber fast die Hälfte braucht selbst dann noch tägliche Betreuung. Was für Schulz auch daran liegt, dass viele Jugendliche dann allein gelassen werden, wenn sie erwachsen werdern und die Jugendpsychiatrie sich aus der Betreuung zurückzieht.
Auch für die autistischen Menschen gehe es eher um Linderung als um Heilung, erklärt der Frankfurter Wissenschaftler Fritz Poustka. Denn Ursache für Autismus sei keine traumatische Erfahrung in der Kindheit, sondern genetische Fehlentwicklungen. „Autismus wird nicht durchs soziale Umfeld hervorgerufen“, erklärte er. „Die Geschichte von der kalten Mutter, die ihr Kind vernachlässigt, ist mehr oder weniger ein Märchen“, ist Poustka überzeugt.
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