: Und sein Name ist Neunzehnhundert
■ Giuseppe Tornatores „Legende vom Ozeanpianisten“ ist nur ein Kino der großen Gesten
Die Story ist dünn, aber gewaltig. Am ersten Neujahrstag dieses Jahrhunderts wird auf dem Konzertflügel des Atlantikkreuzers „Virginian“ ein neu geborener Knabe gefunden, der fortan auf dem Schiff aufwächst und es nie mehr verlassen wird, auch nicht, als ihm, der inzwischen zum begnadeten Pianisten gereift ist, die Gangway zu weltweitem Ruhm und Glück weit offen steht. Die Welt mit ihren Kriegen und Klassen kann ihm gestohlen bleiben, er spielt weiter im Bauch des Riesen, hier einen Charleston für die Hautevolee, dort eine Tarantella für die italienischen Auswanderer. Er lässt sich auch nicht beirren, als ihn der große Zampano, von dem sie sagen, er habe den Jazz erfunden, zu einem Duell herausfordert mit den Worten: „Man sagt, du könntest nur spielen, wenn du den Ozean unter dem Hintern hast.“ Er spielt ihn einfach an die Wand, und am Ende zündet er sich an den glühenden Saiten eine Zigarette an. Er ist Nichtraucher, sein Name Neunzehnhundert.
Das war die Idee des Heizers, der ihn gefunden hat. „Neunzehnhundert“ ist aber auch der Titel eines knappen Einmannstückes von Alessandro Baricco, das der hoch dekorierte Giuseppe Tornatore nun zu einem zweistündigen Epos aufgebläht hat. Dieser Titel wiederum sollte einen italienischen Regisseur am Fin de Siècle eigentlich dazu verdonnern, uns – in memoriam Bertolucci – ein anständiges Zeitbild hinzulegen. Eine Saga. Und Tornatore kann sich nicht beklagen: Das Libretto stimmt. Die Partitur, die ein gewisser Ennio Morricone geliefert hat, ist auch nicht schlecht. Doch seine amerikanischen Impresarios, die wir uns als finstere Gesellen vorstellen müssen, haben ihm einen todbringenden Auftrag gegeben: „Nimm so viel Kohle, wie du willst, aber berge uns den Schatz der Titanic!“
Au weia! Was macht einer wie Giuseppe Tornatore, harmloser Nostalgiker, Nachlassverwalter des europäischen Kinos, der mit einer Hand voll Schauspieler und einem guten Drehbuch tatsächlich märchenhaft schöne Filme wie „Cinema Paradiso“ dreht, wenn plötzlich das große Geld verarbeitet werden muss? Er chartert einen prächtigen Luxusliner, den man mit seinen Dimensionen kaum hinter dem anderen Millenniumskutter verstecken könnte, und filmt zwei Stunden lang die Ausstattung ab. Opfert alle Einfühlsamkeit, für die er Oscars und Palmen en masse eingeheimst hat, für ein Kino der großen Gesten. Wie eben die Zigarettenszene. Oder ein atemberaubender Tanz mit dem Piano, dessen Bremsen Neunzehnhundert gelöst hat, um nun im wogenden Rhythmus des Ozeans hin und her durch den Festsaal zu rauschen. Toll anzusehen. Aber wenn man einen großen Hauptdarsteller wie Tim Roth derart zum Statisten seiner eigenen Großartigkeit macht, ist das eigentlich ein Verbrechen. Dass Neuzehnhundert die Menschen wie kein anderer kennt, die Guten, die Schlechten und die Hässlichen, die Armen, die Reichen und die Aufschneider, weil sie seinen Mikrokosmos zu tausenden durchlaufen haben, bleibt bei Tornatore bloße Behauptung.
Der das behauptet, heißt Max, ein fettleibiger Einfaltspinsel, den Tornatore in einer überflüssigen Rahmenhandlung als Erzähler zwischengeschaltet hat, um uns nicht mit dem verstörenden Sonderling allein zu lassen. Nur durch ihn dürfen wir Neunzehnhundert kapieren. Aber Max guckt mit verkniffenen Schweinsäuglein in die Kamera und kapiert selber nichts. So erstarrt die Legende ohne jede Ironie in der trottelhaften Bewunderung eines Genies. Im Übergang von flüssiger, sanfter Sentimentalität zu kalt erstarrtem Kitsch ist Tornatores Schiff der Träume auf seiner Atlantiküberfahrt irgendwann dem Eisberg namens Hollywood zum Opfer gefallen.
Was bleibt, ist die Musik. Keine Frage, Morricone veredelt diesen Film. Aber die einmalige Melodie, das große Thema fehlt. Der Meister erreicht weder die transatlantische Wucht von „Es war einmal in Amerika“ noch die Wärme seiner vorigen Arrangements für Tornatore. Und für die Klavierstücke, mit denen das Wunderkind sein Publikum zur Raserei bringt, gilt die traurige Regel, nach der gut spielen allemal schnell spielen heißt. So geht es Morricone wie seinem Regisseur. Nicht dass er den Ton nie träfe. Aber ein wenig Seele würde nicht schaden. Philipp Bühler ‚/B‘„Die Legende vom Ozeanpianisten“. Buch und Regie: Giuseppe Tornatore. Mit Tim Roth, Pruitt Taylor Vince u. a. Italien 1999, 121 Min.
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