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Britisches Bauernsterben

Die britische Landwirtschaft steckt in der schwersten Krise seit den finsteren 30er-Jahren. Jetzt stellte die Regierung Blair ein Hilfspaket vor  ■   Von Dominic Johnson

Die Gründe sind einfach und brutal: Es wird wie überall in der EU zu viel produziert und viele Exportmärkte sind seit der BSE-Krise weggebrochen

Berlin (taz) – Wer lebende Nutztiere braucht, sollte nach Großbritannien reisen. Auf manchen britischen Viehmärkten kosten Kälber derzeit 90 Pfennig pro Stück, Lämmer drei Mark. Man kann auch in entlegeneren Ecken von Wales die Landstraßen abfahren und Viecher einsammeln, die zum Teil einfach ausgesetzt worden sind, an Bäume gebunden oder sogar in Telefonzellen gesperrt. Die Bauern werden dankbar sein.

In der britischen Landwirtschaft herscht der nackte Wahnsinn, auch ohne BSE. Das durchschnittliche Einkommen der Bauern ist in den letzten zwei Jahren um 73 Prozent gesunken und hat das Niveau der finsteren 30er-Jahre erreicht. Die meisten Bauernfamilien könnten vom Sozialamt besser leben als von ihrem Hof.

Die Bauerngewekschaft NFU stellte gestern die Ergebnisse der bisher detailliertesten Untersuchung der wirtschaftlichen Lage der Bauern vor: 70 Prozent sehen demzufolge keine Zukunftsperspektive mehr, 41 Prozent werden innerhalb des nächstes Jahres aufgeben müssen, wenn sich ihre Situation nicht verändert. „Unser Bericht zeigt einen im Mark getroffenen Wirtschaftszweig, dessen desillusionierte Arbeitskräfte kaum noch überleben“, sagte NFU-Präsident Ben Gill. „Sie arbeiten immer längere Zeiten und verdienen in vielen Fällen nicht einmal genug für eine Urlaubsreise oder um Geld für Haushaltswaren und Kleider ausgeben zu können. Ihre Gesundheit leidet, und sie können es sich nicht leisten, in den Ruhestand zu gehen.“

Die Gründe dafür sind einfach und brutal. Einerseits wird wie überall in der EU-Landwirtschaft zu viel produziert. Aber bei Großbritannien kommt dazu, dass viele Exportmärkte infolge der BSE-Krise zusammengebrochen sind. Und die Bewältigung der BSE-Krise hat den Bauern viele neue Regeln gebracht, deren strikte Einhaltung die britische Verwaltung in ihrem Eifer, europawürdig zu erscheinen, in geradezu absurd übertriebener Weise erzwingt.

So hat Großbritanniens Regierung massenweise spanische Tierärzte importiert, teilweise ohne richtige Englischkenntnisse, um Detailinspektionen des Viehschlachtens durchzuführen. Kleine Schlachthöfe, die für diesen neuen „Service“ bis zu 180 Mark die Stunde zahlen sollen, stehen seitdem vor dem Aus. Auch für die Bauern ist die Sanierung der britischen Tierzucht eine kostspieliege und bürokratische Angelegenheit: Neue Registrierungspflichten, neue Schlacht- und Vermarktungseinschränkungen. Viele Viehmärkte haben in den letzten drei Jahren dichtgemacht, sodass der Verkauf von Rindern und Schafen immer längere Wege erfordert – und oft damit endet, dass die Tiere wieder nach Hause fahren.

Angesichts dessen wächst der Unmut auf dem Land. Die Bauern fühlen sich von der städtisch-intellektuellen Regierung Blair missverstanden und ignoriert. Auch die nichtbäuerliche Bevölkerung ist zunehmend besorgt angesichts des schleichenden Zusammenbruchs der letzten Reste ländlicher Idylle.

Bereits in den neoliberalen 80er-Jahren verschwanden aus weiten Landesteilen früher selbstverständliche Dinge wie täglich verkehrende Busse und gut sortierte Dorfgeschäfte. Nun haben die Leute auch noch immer weniger Geld und sind stärker auf den Fremdenverkehr und das Vermieten von Landhäusern an wohlhabende Londoner angewiesen. Besonders dramatisch ist diese Entwicklung in Schottland und Wales, wo die neuen Regionalparlamente laut über Sondermaßnahmen zur Unterstützung des ländlichen Raums nachdenken – was wiederum in England für Ärger sorgt.

Am Montag legte die britische Regierung nun ein Hilfspaket von 1,5 Milliarden Mark für die britischen Bauern vor. „Der Staat wird eine Rolle in einem verzerrten Markt spielen müssen“, sagte Landwirtschaftsminister Nick Brown. Einige Maßnahmen stellen eine konkrete Erleichterung dar: So wird der „Tierpass“, der demnächst eingeführt werden sollte und ohne den kein Rind mehr den Hof verlassen sollte, nun auf 2002 vertagt, und einige der BSE-bezogene Schlachthofinspektionen werden ebenfalls bis dahin ausgesetzt. Dies beides allein spart insgesamt 270 Millionen Mark. Der Rest des Hilfsprogramms besteht zu großen Teilen aus neuen EU-Geldern.

Die Reaktion von Bauernseite war vorsichtig. „Dieses Paket wird einige Symptome der Krise mildern“, sagte Ben Gill, Präsident der Bauerngewerkschaft NFU. „Dringend wäre es jetzt, sich um die grundlegende Ursache zu kümmern: übermäßige Bürokratie und Regulierungskosten.“

Aber keine staatliche Hilfe wird den Zusammenbruch der Landwirtschaft umkehren. Weithin wird befürchtet, dass langfristig nur die Großbauern überleben und die kleinen Höfe, deren Vieh- und Schafweiden in den bergigen Regionen von England, Wales und Schottland das Landschaftsbild bestimmen, aussterben.

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