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Nachbeben behindern die Rettungsarbeiten

In Taiwan werden noch immer 2.800 Menschen unter den Trümmern vermisst. Zahl der Toten steigt auf 1.863  ■   Aus Nantou André Kunz

Auf dem Dorfplatz von Kuohsing zeigen sich die Folgen des Erdbebens von Taiwan in ihrer ganzen Tragik. Rechts beim Eingang schreit ein Kind, das schwer verletzt aus einem Trümmerhaufen geborgen wurde. Ein Arzt und zwei Krankenschwestern nehmen eine Notoperation vor, damit der vierjährige Knabe überhaupt mit dem bereit stehenden Krankenwagen ins 30 Kilometer entfernte Kreiskrankenhaus gebracht werden kann. Der Arzt schüttelt besorgt den Kopf: „20 Prozent Überlebenschance!“

Für die 2.800 Menschen, die sich in ganz Taiwan noch immer unter den Trümmern eingestürzter Gebäude befinden, schwinden die Überlebenschancen mit jeder Stunde. Kuohsing und andere Schauplätze des Jahrhundertbebens verwandeln sich langsam zu Grabstätten. Nur 20 Meter vom Lazarett entfernt stehen 50 Särge bereit für den Abtransport. Dahinter liegen in zwei Reihen unter einem Plastikdach 110 Leichen in weißen Plastiksäcken. Auf Tischen davor bringen Verwandte Früchte dar, brennen Räucherstäbchen für die Toten ab und beten mit drei buddhistischen Nonnen für die Seelen. Inzwischen geben die Behörden die Zahl der Toten mit 1.863 und die der Verletzten mit 4.400 an.

Das Dorf Kuohsing mit seinen 3.000 Einwohnern im zentraltaiwanischen Bezirk Nantou ist neben den Kleinstädten Puli und Tungshi der am schlimmsten betroffene Ort. Im Dorf stürzten in der Nacht zu Dienstag 320 Häuser innerhalb von Sekunden ein. Als gestern Morgen ein Nachbeben mit der Stärke 6,8 den Ort noch mal erschütterte, stürzten die restlichen 110 Bauten zusammen. Die Nachbeben behindern derzeit die Rettungsarbeiten am stärksten und jagen die Bewohner des Bezirks Nantou angsterfüllt ins Freie.

Entlang der Bezirksstraße 14 von Taichung nach Puli campieren auf einer Strecke von 32 Kilometern tausende von Menschen unter Plastikplanen neben Betelnuss- und Bananenplantagen. Sie trauen sich nicht mehr in ihre Häuser zurück, weil alle zehn Minuten die Erde bebt. Insgesamt sind in den vergangenen 45 Stunden mehr als 2.000 Nachbeben gezählt worden. Im ganzen Bezirk sind über 100.000 Menschen obdachlos. Die Zahl steigt ständig weiter an.

In Kuohsing campieren 400 Dorfbewohner auf dem Sportplatz, wo sie auch eine behelfsmäßige Feldküche eingerichtet haben. Hier werden die Gemüsevorräte des Dorfes zu chinesischen Eintopfgerichten. Das Wasser ist rationiert, denn die Wasserversorgung ist vollständig ausgefallen. Lastwagen aus anderen Provinzen bringen Frischwasser heran, doch zunächst bleiben sie auf der einzigen offenen Straße ins Katastrophengebiet im Stau stecken. Elektrischen Strom gibt es in dieser abgelegenen Gegend nicht mehr und wird es in den nächsten Wochen wohl auch nicht geben.

Die Menschen in Kuohsing werden auch nicht mehr in ihre Häuser zurückkehren. „In drei Tagen, wenn die Toten bestattet sind, wird dieses Dorf leer sein“, sagt Frau Wu Tiennai, die vor dem Beben eine kleine Nudelbude an der Hauptstraße führte. Sie zieht mit der Familie zum jüngeren Bruder in der nächstgrößeren Stadt Taichung. Dann erst will sie über den Wiederaufbau nachdenken.

Die taiwanische Regierung schätzt den Schaden des Erdbebens bereits auf über 6 Milliarden Mark. Außer den punktuellen Katastrophenschauplätzen in der Hauptstadt Taipeh und in Taichung ist vom Erdbeben nicht viel zu sehen. Nur die Kleinstädte Puli und Tungshi mit je 65.000 Einwohnern sind dem Erdboden gleich. Es sind Städte mit vielen Altbauten, und sie liegen in einer Region, die als Taiwans ärmste Gegend bekannt ist. „Erst wurden die Rettungsmannschaften in den Städten mobilisiert. Als sie bei uns ankamen, war bereits ein halber Tag verstrichen“, klagt Frau Wu. Sie überlegt kurz und sagt dann, dass sie an den von der Regierung versprochenen Wiederaufbau nicht so recht glauben will.

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