Sozialistische Abnabelung

Nach fünfzig Jahren Aufbau und Terror durch die Kommunisten ruht das politische System Chinas nach wie vor auf einem Restposten der Bauernrevolution. Das System wird allerdings selbst in den Städten nicht angezweifelt. Ein Essay zum 50. Jahrestag der Volksrepublikgründung von Georg Blume

Glanzvoll sind die Aussichten der Popsängerin Na Ying im Sozialismus chinesischer Prägung. Professionell hat das neue Massenidol mit dem Titel „Zhengfu“ („Eroberung“) gerade einen Hit gelandet, und auch privat stehen große Dinge an. Schon bald will die Sängerin mit ihrem beim Fußballclub München 1860 verpflichteten Lebensgefährten Gao Feng nach München ziehen, um dort die Musikhochschule zu besuchen und, wie sie sagt, „ein normales Leben“ zu führen. Das klingt zwar noch etwas hölzern, aber der Frau sind keine Grenzen gesetzt. Am 1. Oktober, dem 50. Gründungstag der Volksrepublik, wird sie womöglich Weißwürste frühstücken.

Bis dahin hat die unglückliche Ehefrau Wang Xiuying ihr Leben vermutlich schon ausgehaucht. Die heute 27-Jährige wurde vor fünf Jahren für umgerechnet sechshundert Mark an einen Bauern in Südchina verkauft, dessen Familie das neue Mitglied ständig misshandelte. Als sich Wang rächte, indem sie den Sohn eines Schwagers mit Schwefelsäure begoss, wurde sie vor Gericht gestellt. Aus Sympathie für die Angeklagte besuchte die Präsidentin des Nationalen Frauenverbandes vorige Woche den Prozess in einer Provinzstadt Südchinas. Wang wurde trotzdem zum Tode verurteilt. So endet Sklaverei im Sozialismus chinesischer Prägung mit der Bestrafung der Sklavin.

Die gegensätzlichen Schicksale von Na Ying und Wang Xiuying machen im modernen China keine Ausnahme. Das Ende der maoistischen Gleichmacherei hat dafür gesorgt, dass für den einzelnen Chinesen keine allgemein gültigen Regeln mehr gelten. So stellen sich mancherorts feudalistische Ausbeutungsverhältnisse wieder ein, während für andere die Versprechen der Globalisierung winken. Um solchen Widersprüchen Rechnung zu tragen, hat die regierende Kommunistische Partei Chinas (KPCh) zum 50. Geburtstag der Republik für jeden einen passenden Slogan parat: „Nutze die augenblickliche Gelegenheit und öffne China weiter zur übrigen Welt.“ Und den Verlierern wird gedroht: „Regiere das Land per Gesetz und bewahre Stabilität.“

Fünfzig solcher Jubiläumsparolen, die jeder Situation genüge zu tun scheinen, verkündete die Zentrale der KPCh unmittelbar vor dem großen Nationalfeiertag. So wie im privaten Alltag ist auch auf politischer Ebene eine Parteilinie nicht mehr erkennbar. Sie erschöpft sich in der Grundformel der Diktatur: „Lang lebe die große Kommunistische Partei Chinas!“

Man kann das sehr leicht als Schwäche deuten. „So eindrucksvoll die chinesische Regierung äußerlich auch wirkt“, befand der amerikanische Sinologe Jonathan Spence schon Mitte der Neunzigerjahre, „über Schlüsselbereiche der Wirtschaft wie über die eigenen Volksmassen hat sie die Kontrolle verloren“. Ähnlich werden westliche Kommentatoren nach der als Massenspektakel auf dem Tiananmenplatz in Peking geplanten Republikfeier urteilen. Und sie lägen damit nicht falsch: Das Leben in China hat heute so viele Fassetten, dass die Regierung in Peking bei jedem Versuch, Einigkeit zu demonstrieren, nur eine dünne Fassade errichten kann, die leicht zu durchschauen ist.

Natürlich empfinden es die Chinesen als grotesk, wenn die Partei immer noch zum Studium des „großen Marxismus, Leninismus, der Gedanken Mao Tse-tungs und der Theorie Deng Xiaopings“ aufruft. Unter all den hehren Worten, die von der Partei jetzt wieder rezitiert werden, gibt es einen Ausspruch, der ins Volk eingegangen ist – und alle anderen widerlegt: „Die Wahrheit in den Tatsachen suchen.“ Und so kommt es, dass trotz aller Parolen, die das Gegenteil verheißen, nicht einmal die Kommunisten mehr wissen wollen, was eigentlich noch sozialistisch ist an ihrem Sozialismus.

Diese Frage würde auch die zwei erwähnten jungen Frauen nicht interessieren. Die erfolgreiche Sängerin und die rechtlose Bäuerin leben jedoch an den gut erkennbaren Rändern der chinesischen Gesellschaft. Wann immer im Westen von China gesprochen wird, ist von ihnen die Rede: den weltoffenen Repräsentanten des neuen Reformchinas und seinen hilflosen Opfern. Dabei dienen die einen den Konzernen als Beweis für Chinas Offenheit und die anderen den Menschenrechtsorganisationen als Beweis für die düstere Diktatur des Landes.

Gemeinsam verkörpern diese Gruppen die Extreme in einem Land, das mit einem Bein im 21. Jahrhundert steht und mit dem anderen im Mittelalter. Was man dabei leicht übersieht: Die große Mehrheit der Chinesen lebt in einer ganz anderen Welt, irgendwo auf halbem Weg zwischen Feudal- und Globalgesellschaft, fernab von Showbusiness und großer Politik, aber auch fern täglicher Repressionen durch Justiz oder Partei.

Der alten Mitte der Volksrepublik fehlen die Propagandisten wie sie jetzt die neue Mitte in der Bundesrepublik findet. Dabei geht es immerhin um jeden siebten Menschen auf Erden: Über achthundert Millionen Bauern bewohnen die Provinzen des Parteireichs, und ihre Zahl wächst ständig. Sie sind weder rechtlos noch globalisiert. Ein Teil von ihnen, ungefähr jeder Zehnte, drängt in die großen Städte, um Teil zu haben am Reichtum des kapitalistischen Chinas. Indessen bleiben die meisten, was sie sind: Bauern, ausgestattet mit jenem Stück Land, das ihnen die Kommunisten nach der ersten, zaghaften Landreform von 1951 vermachten, dann mit Einführung der Kommunen wieder wegnahmen, nur um es ihnen nach der zweiten, diesmal entschlossenen Landreform von 1978 wieder zurückzugeben.

Zwei große Leistungen erbrachte die KPCh neben Unterdrückung, Verbrechen und Terror, die in China wie überall für den Kommunismis dieses Jahrhunderts typisch waren: Sie schaffte 1949 und in den Jahren danach die „Reintegration des Riesenreichs, die Sun Yat-sen und Chiang Kaishek ebenso wie den Japanern misslangen“ (Spence), und sie schaffte 1978 jene Landreform ab, die innerhalb von wenigen Jahren zwanzig Prozent der Bevölkerung – 200 Millionen Menschen – über die Armutsgrenze hievte und hunderten von Millionen Menschen die Möglichkeit gab, ihr Geld frei anzulegen und ihren Wohnort selbst zu wählen. „Kapital, das den Bauern gehört, soll ohne geografische Beschränkung frei zirkulieren“, hieß es im berühmten „Dokument Nr. 1“ der KPCh von 1984, das den Bauern nach den Jahren der Testphase auch die langfristigen Nutzungsrechte für ihre Böden garantierte. Seither verfügen Dorfbewohner in China über ein quasi erbliches Bodenrecht – obwohl der Staat Eigentümer der Landfläche bleibt.

Auf diesen halbsozialistischen Besitzverhältnissen, die schon vor 1949 bei der Befreiung einzelner Gebiete zum Erfolg der Kommunisten beitrugen, beruht das von Deng nach Maos Tod kreierte System der Republik. Denn nur auf Basis dörflicher Gerechtigkeit ließ sich in der nächsten Reformphase die städtische Marktwirtschaft einführen. „Soziale und ökonomische Ungleichheiten sind zulässig, wenn sie zum größten zu erwartenden Vorteil für die am wenigsten Begünstigten führen“, sagt der amerikanische Sozialtheoretiker John Rawl. Dies Konzept, so Deng, konnte auf Chinas boomende Städte, nicht aber auf seine übervölkerten Dörfer angewandt werden.

So kommt es, dass sich mit vielen Bauern des Landes über den Sozialismus noch reden lässt. Nicht etwa, dass alle Dörfler einer Meinung wären. Aber bei ihnen fehlt jene Radikalität, die entsteht, wenn die Menschen im Zuge der rasanten Entwicklung der Städte entweder emporgespült oder niedergerissen werden.

Auf dem Land unterscheiden sich die Lebensläufe wenig. Die Alten erinnern sich an vier politische Ereignisse. Zuerst war da der Sieg der Revolution. Dann kam der „Große Sprung nach vorn“ in den Jahren 1959 bis 1962, als sie die Felder verlassen mussten, um für Mao Stahl zu sammeln, und viele während der durch den Ernteausfall bedingten Hungersnöte die schlimmsten Tage ihres Lebens durchstanden. Schließlich folgte in den Sechzigerjahren die Kulturrevolution, die den Bauern die Kinder entriss und ihnen den Ultrakollektivismus aufzwang.

Noch weit mehr als die Revolution von 1949 bleibt den Bauern deshalb die Landreform Dengs als eigentliche Phase der Befreiung in Erinnerung. „Wir mussten nicht mehr alles Getreide abgeben und konnten eigene Gemüsefelder anlegen“, sagen Bauern am Gelben Fluss. „Wir konnten das erste Mal für den eigenen Gewinn Süßkartoffeln pflanzen“, erinnern sich Bergbauern in Sichuan.

Die Landjugend mögen diese Geschichten inzwischen langweilen. Sie kennt kein anderes Leben mehr als das mit Kühlschrank und Fernseher. Und doch wissen auch die Jüngeren ihre erst in den letzten zwei Jahrzehnten erworbene Existenzsicherheit zu schätzen. Zumal manch einem zu Ohren gekommen ist, dass die harten Arbeitsbedingungen in den Städten dem bescheidenen Landleben nicht immer vorzuziehen sind.

Es ist also nicht schwer, der chinesischen Bauernschläue auf die Spur zu kommen: Sie geht davon aus, dass alle Veränderungen nicht nur Fort-, sondern auch Rückschritte bedeuten können. Hierzulande sagte Heiner Müller bereits Anfang der Neunzigerjahre in einem taz-Gespräch: „Ein Aspekt der von Michail Gorbatschow ausgelösten Bewegung ist natürlich die Abnabelung von den Problemen der Dritten Welt: Wir müssen uns selber helfen, wir können euch nicht mehr helfen, seht zu, wo ihr bleibt.“ Nimmt man seine Warnung weiterhin ernst, wird klarer, weshalb nach fünfzig Jahren totalitärer Volksrepublik nicht nur Trauer angesagt ist. Aber Na Ying und Wang Xiuying werden das nie verstehen.

Georg Blume, 36, lebt in Peking und ist seit 1997 Korrespondent der taz in China. Zusammen mit seiner Frau Chikako Yamamoto publizierte er kürzlich das Buch „Chinesische Reise“, Wagenbach Verlag, Berlin 1999, 156 Seiten, 19,80 Mark