: Khat fürs Volk
Die grüne Droge ist aus dem Alltag der Jemeniten nicht wegzudenken. Sie gehört zum Kulturgut wie bei uns das Kaffeekränzchen. Ein Nachmittag unter Männern mit der dicken Backe ■ Von Ernst Pallenbach
Es ist Freitagnachmittag. Nach einem reichhaltigen gemeinsamen Mittagessen sitze ich mit meinem Freund Abdullah, seinem Vater und seinen beiden Brüdern im Mafradsch, dem jemenitischen Wohnzimmer auf Teppichen und Matratzen. Gelassen beobachten wir die Wasserspiele im Patio seines Elternhauses, einige Kilometer vor Sanaa, der Hauptstadt der arabischen Republik Jemen. Nach und nach treffen weitere Verwandte und Freunde der Familie ein. Jeder Neuankömmling wird mit einem „Ahlan-wa-sahlahn“, was so viel wie „herzlich willkommen“ heißt, freudig in die ständig wachsende Runde von Männern aufgenommen.
Abdullahs Vater nimmt als Hausherr den Ehrenplatz ein: einen Eckplatz mit guter Aussicht und weit von der Eingangstür entfernt. Der Mafradsch zählt bald zwanzig Personen. Das Stimmengewirr wird nur kurzzeitig durch das Plätschern des Springbrunnens und das Gurgeln der alten Wasserpfeife, die mitten im Raum steht, unterbrochen. Die Männer tragen die Sannah, einen bodenlangen Umhang, und darüber die Dschambia, den traditionellen Krummdolch, der zu jedem gut gekleideten Jemeniten gehört wie zum deutschen Mann die Krawatte. Abwechselnd trinken wir Tee und Cola.
Abdullah erzählt mir von traditioneller Medizin und von seiner bevorstehenden Hochzeit.
Fast jeder der Besucher trägt ein kleines oder größeres Bündel aus Zweigen mit sich und breitet es auf dem Boden vor den Matratzen aus. Da manche der etwa 20 Bündel einen stattlichen Umfang haben, erscheint der ansonsten ohne Pflanzenschmuck ausgestattete Mafradsch bald wie ein Gewächshaus. Nach und nach sitzt jeder Besucher vor einem Berg der kleinen Blätter und Zweige der berühmtesten jemenitischen Pflanze: Khat. Blätter, die dem Einheimischen als „Schlüssel zu einem besonderen Paradies“ gelten. „Kaue einige der Blätter, und dieser Sesam öffnet sich.“
Wie alle Teilnehmer der Runde haben sich auch Abdullah und seine Familie ihre Khatportion vormittags auf den Souks erstanden. Mindestens eine Stunde haben wir bei den Händlern verbracht, Preise, Umfang und Qualitäten der Ware verglichen und diskutiert. Am teuersten sind die jungen, noch rötlich schimmernden Triebe mit kleinen Blättchen, dafür muss der Käufer umgerechnet bis zu 20 Mark pro Portion hinlegen.
In der Regel beginnt die Khatsitzung am frühen Nachmittag. Nach einigen Gläsern Tee nehmen die Teilnehmer einen oder mehrere Zweige aus den geöffneten Bündeln in die linke Hand. Mit der rechten Hand werden Blätter und Zweigspitzen von unten nach oben abgezupft, zwischen Daumen und Zeigefinger gesäubert und in den Mund geschoben. Die Blätter werden nicht geschluckt, sondern kurz angekaut und im Mund gesammelt. Sobald einige Blätter zusammen sind, kaut man darauf herum und entzieht ihnen so den Saft, der geschluckt wird. Die Blattbestandteile werden danach in die linke Backentasche geschoben und gesammelt.
Auch nach zwei Monaten im Jemen staune ich immer noch, wie weit sich die Backe bei einem geübten Khat-Kauer dehnen lässt, Tennisballgröße ist nicht übertrieben. Insgesamt nimmt jeder im Laufe einer Sitzung 100 bis 400 Gramm Blätter zu sich. Ältere, zahnlose Männer, die nicht mehr in der Lage sind zu kauen, haben eine interessante Technik entwickelt, um auf den Genuss der Droge nicht verzichten zu müssen: Sie zerkleinern getrocknete Blätter in einer Petersilienmühle.
Abdullah, der neben mir sitzt, ist damit beschäftigt, mir die besten und frischesten Blättchen vom Zweig zu zupfen. Nach ungefähr einer halben Stunde beobachte ich, wie die Gespräche der anderen lebhafter, offensichtlich vertrauter werden. Gesellschaftliche und persönliche Themen werden diskutiert, kleinere Konflikte geschlichtet.
Die Atmosphäre ist entspannt und fröhlich. Dementsprechend wird diese erste Phase der Sitzung mit „tannabuh“ (Wachheit) bezeichnet. Für die anregende Wirkung der Blätter sind zwei amphetaminähnliche Inhaltsstoffe verantwortlich. Die „Wachheitsphase“ dauert etwa zwei Stunden an, dann lässt das Reden nach, Ruhe und Gelassenheit kehren ein.
Banale Aspekte des alltäglichen Lebens bekommen eine erhabene Zeitlosigkeit, das Selbstbewusstsein ist gesteigert, und das eigene Ich wird als Mittelpunkt der Welt empfunden. Die Wirklichkeit bleibt ein paar Augenblicke lang vor der Flügeltür des Mafradsch. Diese Phase wird „kaif“ (Wohlbefinden) genannt. Mit nachlassender Wirkung kehrt auch die Realität zurück.
Die dritte Phase, auch „qalak nafsani“ (seelische Unruhe) genannt, das Ende der Khatsitzung, beginnt. Gegen die in diesem Stadium möglicherweise aufkommende Geistesabwesenheit und Niedergeschlagenheit trinkt man gemeinsam schwarzen Tee. Man bleibt noch einige Zeit zusammen sitzen, redet ein bisschen und geht dann auseinander. Insgesamt dauert eine Khatsitzung etwa drei Stunden und endet somit meist am frühen Abend.
Khat wird vom größten Teil der männlichen Bevölkerung, aber auch von sehr vielen Frauen regelmäßig genossen. Khat gehört zum Kulturgut wie in Deutschland das Kaffeekränzchen. Gleichzeitig ist die Rolle des Khat auch im Jemen sehr umstritten. Die Meinungen der Politiker des Landes reichen von absoluter Ablehnung bis völliger Rechtfertigung. Manche sehen im Khat den Ruin des Landes, andere wiederum halten die Blätter eher für eine geringe Belastung des Landes, insbesondere im Vergleich mit dem Drogenproblem der westlichen Welt.
Eine weitere zentrale Frage ist, ob Khat zu den im Koran ausdrücklich verbotenen Rauschmitteln wie beispielsweise Alkohol gehört. Nach der Meinung von Gelehrten gehört Khat zu den sogenannten „shubahat“, jenen zweifelhaften Fällen, die auch nach dem Koran nicht eindeutig zu entscheiden sind.
Khat ist allgegenwärtig. Aber Khat ist auch teuer! In der arabischen Republik Jemen schätzt man die jährlichen Ausgaben für die Blätter auf etwa eine Milliarde Mark. In vielen Fällen geben die Konsumenten bis zu drei Viertel ihres Monatseinkommens für die Blätter aus. Ein jemenitischer Familienvater, der regelmäßig kaut, kann dadurch unter Umständen seinen Pflichten der Familie gegenüber nicht mehr ausreichend nachkommen.
Über elf Prozent des jemenitischen Ackerlandes werden von Khatpflanzen bedeckt. Ein bedeutender Wirtschaftsfaktor. Khat bringt den Bauern doppelt soviel ein wie Getreide. So wird fruchtbares Kulturland mehr und mehr in Khatplantagen umgewandelt. Aber gleichzeitig sichert der Anbau zahlreichen Bauern und Händlern ihre Lebensgrundlage. Ein großer Teil der Bevölkerung kann dank Khat auf dem Land leben bleiben. So wird eine Landflucht im großen Ausmaß und eine Konzentration der Bevölkerung auf die Ballungszentren, wie in den meisten Entwicklungsländern, verhindert. Und der Staat kassiert Steuern beim Umsatz von Khat. Das erwirtschaftete Geld bleibt im Land und verschwindet nicht, wie häufig bei Entwicklungsländern, auf auswärtigen Bankkonten.
Khat ist aus dem Alltag der Jemeniten nicht wegzudenken. Der Jemen ist ein Land mit deutlich ausgebildeten Stammesstrukturen. Sämtliche Beziehungen im privaten und im öffentlichen Bereich, die Wirtschaft des Landes und das politische System bauen auf persönlichen Kontakten auf. Und persönliche Kontakte werden im Jemen beim Khatkauen geknüpft und vertieft.
Khat, das ist nicht nur die Droge und ihre pharmakologische Wirkung. Khat ist ein großes Stück Leben im Jemen. Trotz aller berechtigten Bedenken sind vorschnelle generelle Verurteilungen medizinischer und moralischer Art fehl am Platz, besonders in Anbetracht von etwa 2,5 Millionen Alkoholkranken, knapp 1,5 Millionen Medikamentenabhängigen und etwa 18 Millionen Rauchern bei uns. Da sollten wir die dicken Backen nicht nur mit deutschen Augen betrachten.
Hinweis:Zahnlose alte Männer nutzen die Technik zum Genuss der Droge: Sie zerkleinern die getrockneten Blätter in der Petersilienmühle
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