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Hungerhaken zeigen Zähne

Bei der morgen beginnenden Weltmeisterschaft im japanischen Osaka hoffen die deutschen Sportgymnastinnen auf die Olympia-Qualifikation  ■   Von Ulrike Bohnsack

Kleine magere Mädchen, die Haare zum obligatorischen Dutt gebändigt, grell geschminkt und in ebenso grellen Glitzer-Anzügen werden ab 28. September bis 3. Oktober in der japanischen Wirtschaftsmetropole Osaka Seil, Band, Ball und Reifen in die Luft werfen, dazu ihre Kautschuk-Knochen verbiegen und sich dann um das behände gefangene Wurfgeschoss räkeln. Oder zuerst räkeln und dann verbiegen.

Und die etwas dezenter aufgetakelten Kampfrichterinnen der rhythmischen Sportgymnastik werden unerbittlichen Blickes bewerten, ob das lächelnde Mädchen auch sicher steht auf seinem einen Bein, wo doch der andere Fuß rückwärtig an der Schulter ruht. Ob dabei das sechs Meter lange, von einer nagellackierten Hand geführte Band auch lustige Spiralen beschreibt, sich diese Synthetikschlange mit einer kleinen energischen Bewegung anmutig um den Körper wickeln und mit einer zweiten wieder entkringeln lässt. Und wie es um das Leitthema in der Choreografie bestellt ist, mit dem laut Reglement Übungsinhalt, Musik, Bekleidung und Gesamteindruck harmonieren müssen. Alles zufriedenstellend? Dann es ist Anmut, Eleganz, ein perfekter künstlerischer Vortrag und eine 9,9 plus x bis gar zur 10 wert. Noten, die darüber entscheiden, wer in die vier Handgerätefinals der jeweils besten acht einzieht und am Ende des Turniers die WM-Medaillen im Mehrkampf und in den Einzeldisziplinen umgehängt bekommt.

Doch es geht in Osaka auch darum, wer im nächsten Jahr vor den olympischen Jurorinnen turnen darf. Und für Sydney wollen sich neben der deutschen Gruppe auch die Einzelstarterinnen Edita Schaufler, Lena Asmus, Monique Strobl und als Ersatz Melanie Putze qualifizieren. Eine machbare, wenngleich schwierige Aufgabe. Immer noch übermächtig ist die Konkurrenz aus den GUS-Staaten, aber auf die Medaillenränge schielt ohnehin keiner ernsthaft.

Für Edita Schaufler (19) allerdings, die Magdalena Brzeska vor zwei Jahren als deutsche Nummer eins beerbte, sind alle vier Handgerätefinals Ball, Seil, Reifen und Band (Keulen gehören dieses Jahr nicht zum Programm) Pflicht. Die Mehrkampfneunte bei der WM 1997 und diesjährige EM-Siebte, mit 13 aus Kirgisien nach Deutschland gekommen, trainiert wie Asmus und Strobl im Olympia-Stützpunkt Westfalen (Bochum). Alle drei starten auch für den TV Wattenscheid 01, besser bekannt als Sammelbecken diverser deutscher Leichtathletik-Asse. „Edita gehört absolut zur Weltelite“, bescheinigte Trainerin Livia Medilanski ihrer Schülerin nach dem World-Cup Ende August in Bochum, wo sich fast die gesamte Weltelite einem Test unterzog und Edita in allen Gerätefinals vordere Platzierungen erreichte. „Ich habe noch Reserven“, erwiderte die Vielgelobte, die im Gegensatz zu den meist 15 bis 18 Jahre alten turnenden Hungerhaken nicht aussieht, als hätte sie die Pubertät noch vor sich.

In einem Jahr, bei Sydney 2000, wird sie 20 Jahre alt sein und damit die Altersschallgrenze auf dem Gymnastikteppich durchbrechen. Die Weltranglistenerste Elena Witritschenko zählt mit 22 bereits zu den Turn-Omis. Mit der 16-jährigen Alina Kabajewa hat die Studentin aus der Ukraine, die beim World-Cup in Bochum überraschend fehlte, ärgste Konkurrenz aus dem Teenie-Lager bekommen. Die amtierende Mehrkampfeuropameisterin Kabajewa wird schon jetzt als Anwärterin auf das olympische Gold im nächsten Jahr gehandelt. Der Shooting-Star aus Russland gilt als die beweglichste und temperamentvollste unter den Gymnastinnen. Und sie beherrscht eine lästige, aber wichtige Pflichtübung perfekt: Lächeln, dass die Übung noch an Leichtigkeit gewinnt. Lächeln, um das Extra bei Zehntel und Hundertstel Punkten herauszuschinden. Und selbst wenn dem Gerät aufgrund eines Patzers nachgelaufen werden muss: Zähne zeigen.

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