: Die anderen
■ Die "FAZ", "The Observer" und "La Repubblica" über den Nobelpreis für Günter Grass
Die „Frankfurter Allgemeine“ über den Nobelpreis für Günter Grass: Am Ende des deutschen Schreckensjahrhunderts steht symbolisch ein großer geistiger Sieg. Wir verneigen uns vor dem Preisträger. Doch in Respekt und Glückwunsch mischen sich ein wenig Verlegenheit und Beklemmung. Keinem konnte entgehen, wie sich der Zeitgenosse zu überleben begann. Verzeifelt versuchte er, seine Anfangserfolge zu wiederholen. Aber da war kein Feuerwerk mehr. Er zerfiel mit seiner Partei, der SPD, und seine Warnungen und Proteste wurden immer wunderlicher, seine Bücher immer miserabler. In Deutschland stand er nicht nur für eine Literatur, der das große Thema abhanden gekommen ist, sondern auch für eine abgelegte, nur noch in den Restbeständen der SPD physisch greifbare Lebensform. Man hat gesagt, der Nobelpreis für Heinrich Böll sei so etwas wie das demokratische Reifezeugnis für die Bundesrepublik gewesen. Wenn das damals so war, dann spricht heute alles dafür, dass der Nobelpreis an Günter Grass der demokratische Rentenanspruch für das wiedervereinigte Land ist. Spätere Zeiten werden ihn viel näher an der Seite Helmut Kohls sehen, als Grass es heute selbst für möglich hält. Kohls Wiedervereinigungskunst war der politische Triumph der Jugend von 1945, Grass' Nobelpreis ihr geistiger.
„The Observer“ (London) meint zum selben Thema: Der Nobelpreises unterstreicht die Tatsache, dass das englische Lesepublikum keinen lebenden Nobelpreisträger hat, an dessen Weisheit es sich orientieren kann. Am Ende des Jahrhunderts mangelt es Großbritannien und auch den USA an alten, vernarbten Kämpfern wie Grass, die auf eine literarische Karriere zurückblicken, für die die großen englischen Schriftsteller der Vergangenheit viel Sympathie gehabt hätten. Wie Dickens hat er die deutschen Nachkriegspolitiker beschuldigt, korrupte Einstreicher zu sein, wie Kipling hat er mit der „Blechtrommel“ die Stimmung der Nation eingefangen.
„La Repubblica“ (Rom) schreibt: Grass ist ein Erforscher des deutschen Bewusstseins. Er ist ein Autor, der seine Landsleute oftmals bis zur Weißglut reizt, vor allem diejenigen, die Angst haben, einer Art größerer Schweiz anzugehören, ohne eigene Vergangenheit. Diese Deutschen provoziert er, indem er in der Geschichte herumstöbert, mit seinen schelmischen Ideen, seinen fantasievollen Fabeln und manchmal auch seiner Grimmigkeit. Es ist ganz natürlich, dass die Deutschen zwischen Zustimmung und Ärger hin und her schwanken. Er lässt sie im Zweifel, in einer Unsicherheit: Das ist eine Situation, die die Gesellschaft hasst.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen