: Atom-Schlamperei kam von ganz oben
■ Nicht nur menschliches Versagen war schuld an dem Unfall – gegen den Betreiber wird polizeilich ermittelt. Strahlenwerte lagen höher als bisher angegeben. Regierung gibt Entwarnung
Berlin (taz/AP/AFP/dpa) – Mit den ersten Untersuchungen zu dem schweren Atomunglück in Japan öffnet sich ein Fass ohne Boden: Offensichtlich waren Verantwortungslosigkeit und Schlampereien bei den Betreibern und der Regierung Mitursache für den Unfall. Gegen die Betreiberfirma der Brennelementefabrik in Tokaimura wurden noch am Sonntag Ermittlungen eingeleitet und eine 100-köpfige Sondereinheit bei der Polizei eingerichtet. Währenddessen gab die Regierung für die Bevölkerung Entwarnung und ließ sie in ihre Häuser zurückkehren.
Am letzten Donnerstagvormittag hatten drei Arbeiter in der Atomanlage von Tokaimura versehentlich eine atomare Kettenreaktion ausgelöst, die erst nach 20 Stunden gestoppt werden konnte. Zwei der Männer haben dabei eine lebensgefährliche Dosis abbekommen. Insgesamt wurden nach bisherigen Meldungen 55 Menschen verstrahlt.
Den japanischen Medien gegenüber hatten die Betreiber eingestanden, dass sie jahrelang Sicherheitsvorkehrungen und Gesetze missachtet haben. Die Regierung Japans hat den Beteuerungen der Firma, solche Unfälle seien nicht möglich, Glauben geschenkt und die Anlage genehmigt. Außerdem sollen die Arbeiter nicht entsprechend ihrer Tätigkeit ausgebildet gewesen sein.
„Ich bin empört, das ist eine Unverschämtheit“, sagte der Gouverneur der Präfektur Ibaraki, Masaru Hashimoto. „Dieser Unfall widerspricht dem, wofür Japan berühmt ist, und seinem Ruf als führend in der technologischen Entwicklung“, sagte Regierungssprecher Hiromu Nonaka.
Zu dem Fehlgriff der Arbeiter, die achtmal mehr Uran in ein Abklingbecken geschüttet hatten als zulässig, hat vermutlich auch ein manipuliertes Handbuch geführt. Noch ist unklar, ob die Betreiber die Richtlinien umgeschrieben hatten.
Auch im Anschluss an die Katastrophe ereigneten sich Pannen. Bis die Bevölkerung gewarnt wurde und 150 unmittelbar neben der Anlage Lebende evakuiert wurden, vergingen mehrere Stunden. Die Regierung war mit einer Kabinettsumbildung beschäftigt und richtete erst abends eine Untersuchungsgruppe ein.
Erst jetzt, vier Tage nach der Katastrophe, wird bekannt gegeben, dass die Strahlenbelastung weitaus größer war als zunächst angegeben. Die Umweltschutzorganisation Greenpeace hat gestern mit eigenen Messungen um das Gelände und der Entnahme von Bodenproben begonnen. Mit 0,54 Mikrosievert pro Stunde wurden Werte erreicht, die in Deutschland nicht einmal pro Jahr erlaubt sind.
Selbst konservative japanische Zeitungen griffen Betreiber und Regierung an. Es könnte sein, so die Wirtschaftszeitung Nihon Keizai Shimbun am Wochenende, dass Japan in puncto Krisenmanagement immer noch ein Entwicklungsland sei. Vertuschungen, späte Reaktionen und Schlampereien zeigten, dass weder die Atomindustrie noch die Regierung aus den letzten Unfällen viel gelernt hätten. Maike Rademaker
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