: Beklemmung über die eigene Unfähigkeit
■ „Realität ist woanders“: Schlingensiefs „Deutschlandsuche 99“ im Schauspielhaus
Wir müssen draußen bleiben. Christoph Schlingensief lädt ein zur theatralen Nachbildung der Fernsehwelt. „Die Realität ist immer woanders. Die schweigende Masse sitzt draußen“, erklärt er seine „dramaturgische Versuchsanordung“: eine Riesenleinwand trennt Zuschauersaal und Bühne, per Videokamera wird das Geschehen der Bühne auf die Leinwand übertragen. Auf der Bühne ist das „Lager“, ein nachinszeniertes Kriegs- oder Flüchtlingslager, in dem eine Talk-show zum Tag der Einheit stattfindet. Der Versuch ist Teil der in Weimar begonnenen „Deutschlandsuche 99“, diese wiederum Vorbereitung der großen Wagnertour, die zum Milleniumswechsel mit einer Inszenierung des Wagner-Rings in Namibia enden soll: Deutsche Musik und deutsche Helden für die frühere deutsche Kolonie.
Erster Talkgast ist Bubisgrabschänder Meir Mendelssohn. Dessen absurde Ausführungen über die kriminelle Vergangenheit des früheren Zentralratsvorsitzenden der Juden provozieren noch zu ungläubigem Gelächter. Ebenso die Aufforderung Schlingensiefs, die Grabschändung mit Farbspritze und Leinwand noch einmal zu rekonstruieren. Gleichzeitig wächst jedoch die Unsicherheit, ob dieser kauzige Mendelssohn nicht nur ein Schauspieler ist. Schlingensief läßt das irritierte Bühnenpublikum über die Echtheit abstimmen, bevor der (echte) Bernhard Schütz Mendelssohn als Schauspieler Werner Müller outet.
Zweifel herrschen auch über die zweite Talkrunde, doch die sind ganz anderer Art: Was treibt ihn dazu, eine illustre Runde der neuen Rechten, die ehemals Linke waren, einzuladen? Horst Mahler (Ex-RAF, Ex-SDS, Gründer der „Bürgerbewegung Unser Land“), Rainer Langhans und Reinhold Oberlercher (Ex-SDS) preisen im Schauspielhaus das Nationale. Mahler darf kaltschnäuzig und rhetorisch virtuos seine rechtsradikalen Äußerungen vortragen, mit denen er inzwischen auch schon erfolgreich auf dem NPD-Parteitag gastierte: Die Bundesrepublik sei ein besetztes Land, in der Hand von amerikanischen, z. T. jüdischen, Investoren. Der Abend eskaliert: Bernhard Schütz attakiert Horst Mahler. Immer mehr Zuschauer strömen auf die Bühne, die Feuerwehr droht, die Veranstaltung abzubrechen. Klaus Naseband, künstlerischer Direktor des Schauspielhauses, greift ein, bis die Leinwand hochgezogen wird.
Schlingensief gelingt es, die Grenze zwischen zwischen Realität und Theatralität aufzulösen. Doch das allein wäre zu wenig. Man mag Schlingensief vorwerfen, dass er Mahler und Co. ein Forum geboten hat – genauso dem Publikum, sich die Plädoyers für ein neues deutsches Reich kommentarlos angehört zu haben. Viel wichtiger aber ist: Schlingensief zwingt damit zur tatsächlichen Konfrontation mit der neuen Rechten.
Die vierte Wand des Theaters und des Fernsehens fehlt, die Zuschauer können sich nicht zurücklehnen. Beklemmung entsteht: Beklemmung über das, was laut ausgesprochen wird und Beklemmung über die eigene argumentative Unfähigkeit, dem mehr entgegenzusetzen als ein „Nazisau“, „Aufhören“ oder „Herr Schlingensief, lassen Sie sich bitte etwas einfallen!“. Nachdem Mahler und Oberlercher mit Kakoapulver und Mehl beworfen wurden, plätschert der Abend aus: Schlingensief sitzt still mit einer Langhaarperücke auf der Bühne, Kurt Beyer trägt auf Deutsch seine Beatles-Songs vor, während das Publikum endlich ins Gespräch kommt – auch darüber, warum man sich von Mahler hat paralysieren lassen. Und das kann heilsam sein. Niels Grevsen
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen