: Wir wollten daran glauben
Am 7. Oktober 1969 ging ein Gerücht durch Ostberlin: „Die Rolling Stones spielen auf dem Springer-Hochhaus.“ Für Harry Lorenz endete das Gerücht im Knast ■ Von Gunnar Leue
Zweimal in seinem Leben hat Harry Lorenz die Rolling Stones live erlebt. 1990 in Berlin-Weißensee und 1998 im Olympiastadion. Der heute 47-Jährige hätte sich seine Lieblingsband am liebsten schon vor dreißig Jahren angesehen. Nur ging das damals nicht für ihn als Ostberliner. Aber er hat es immerhin versucht.
Der Versuch geschah am 7. Oktobert 1969. Ein angebliches Rolling-Stones-Konzert auf dem Springer-Hochhaus hatte tausende Ostberliner Jugendliche an die Mauer gelockt. Auch der damals 17-jährige Harry Lorenz war dabei. Seine Lieblingsgruppe sah er nicht, dafür Gefängnismauern wie viele andere Stones-Fans.
Begonnen hatte alles im September 1969, als Harry zu Ohren gekommen war, dass die Stones am Abend des 7. Oktober – dem 20. Jahrestag der DDR – auf dem Westberliner Springer-Hochhaus direkt an der Mauer spielen würden.
„Das Gerücht ging um in allen Schulen, Betrieben. Auch im Kabelwerk Oberspree, wo ich lernte“, erinnert sich Lorenz. Angeblich soll es vom Westberliner Rias verbreitet worden sein, doch selbst die Nachforschungen der Stasi fanden dafür keine Anhaltspunkte, wie in den Akten der just eingeleiteten MfS-Aktion „Jubiläum“ festgehalten wurde.
Egal woher die Nachricht kam, sie elektrisierte auch die „Gammler“-Clique des 17-jährigen Harry in Berlin-Buch. Dass es eine Faschmeldung sein könnte, spielte keine Rolle. „Wir wollten wohl einfach daran glauben“, sagt Harry Lorenz heute, „denn die Stones waren ja wegen ihrer Anti-Haltung unsere Helden. Außerdem wollten wir auch mal was erleben, so wie die Westfans bei der Randale während des Stones-Konzerts in der Waldbühne 1965.“
Harry und seine Kumpels fuhren am 7. Oktober mittags mit der S-Bahn zum Alexanderplatz, wo bereits Trubel herrschte – allerdings war dies der offiziell organisierte zum Republikgeburtstag, an dem auch der Fernsehturm mit einem Volksfest eingeweiht wurde.
Die Stones-Fans aus Buch machten sich auf den Weg Richtung Spittelmarkt und mit ihnen hunderte Gleichgesinnte. „Die kamen aus der ganzen Republik. Auf der Brücke beim Nikolaiviertel wurden wir durch eine Polizei-Absperrung aufgehalten.“ Doch einige hundert Jugendliche hatten es bis zum Spittelmarkt geschafft und blickten erwartungsvoll zum westlichen Springer-Hochhaus herüber – wo freilich nichts passierte.
Dann schlug die Volkspolizei zu. Erst wurden die Jugendlichen abgedrängt, dann angegriffen. Als es die ersten Verhaftungen gab, heizte sich die Situation auf. Sprechchöre erschallten: „Die Mauer muss weg.“ Als schwarze Staatslimousinen die Leipziger Straße entlang fuhren und in der Menge stecken blieben, trommelten die Stones-Rocker mit Fäusten auf die Karossen ein. In einer saßen offenbar CSSR-Diplomaten, was einige Jugendliche zu „Es lebe Dubcek“-Rufen veranlasste.
Obwohl die U-Bahnhöfe in der Umgebung gesperrt wurden, um das Eintreffen immer neuer Stones-Fans zu unterbinden, eskalierte die Lage. „Wir waren wohl einige tausend Leute und von der Polizei auf der Karl-Liebknecht-Straße regelrecht eingekesselt. Die trieb uns immer die Straße rauf und runter, und zwischendurch griffen sich Männer in Zivil ständig einzelne Leute heraus, auch mich. Wir wurden dann abtransportiert zur Polizeizentrale in die Keibelstraße.“
Da standen bereits unzählige „Zugeführte“ in den Kellergängen, mit gespreizten Händen und Beinen an der Wand, als Harry Lorenz eintraf. Beim Verhör wollte man von ihm wissen, ob er sich an den „Freiheit“-Sprechchören beteiligt hatte. Der Minderjährige leugnete, wurde aber erst nach fast 24 Stunden laufen gelassen. Dagegen blieben 86 der 430 Festgenommenen bis zu mehreren Monaten in Haft.
Harrys Mutter – deren besorgte Nachfragen bei der Polizei zuvor immer abgewiegelt worden waren – konnte ihren Sohn am nächsten Tag vom VP-Revier Pankow abholen, samt dem lakonischen Hinweis, er hätte noch mal Glück gehabt.
Von wegen. Die Geschichte war noch nicht zu Ende. Nachdem das Abenteuer in der Clique wie ein Sieg gefeiert wurde, kam das nächste Gerücht auf: Ein Mädchen sei bei den Krawallen getötet worden, weshalb es für sie am 17. Oktober eine Trauerkundgebung geben sollte.
Harry Lorenz wollte mit seinen Kumpels wieder dorthin. Doch dazu kamen sie nicht. Am 17. Oktober stattete die Stasi in aller Frühe etwa zehn Hausbesuche in Buch ab.
Auch Harry Lorenz wurde von zwei Herren in Zivil „zur Klärung eines Sachverhalts“ abgeholt. Die dauerte zwei Monate. Auf dem Pankower VP-Revier geriet er wieder in die Vernehmungsmangel, doch Harry Lorenz sagte nicht, von wem das Gerücht mit der Kranzniederlegung stammte. Er kam erneut in die Keibelstraße, wo er zwei Monate in U-Haft blieb.
„Dort hieß es immer, man würde mir schon was beweisen können, um mich anzuklagen. Konnten sie aber nicht, bis sie behaupteten, ich hätte Kabelstücke aus meinem Betrieb geklaut, um sie bei der Trauerkundgebung als Waffe zu gebrauchen.“
Harry Lorenz verlangte eine Gegenüberstellung mit dem Belastungszeugen. Als man das nach langem Zögern gestattete, war der Spuk vorbei. „Es war ein Kumpel, der mir gleich sagte, vor der Aussage sei er verprügelt worden. Noch am selben Tag wurden wir beide entlassen.“
Um die zwei Monate Haft nachträglich zu rechtfertigen, wurde Harry Lorenz später zu sechs Monaten auf Bewährung verurteilt – wegen „Beeinträchtigung staatlicher Tätigkeit“.
Außerdem bekam er in den folgenden Jahren jedesmal vor staatlichen Feiertagen die Auflage, ja schön zu Hause zu bleiben.
Das blieb er denn auch jedes Mal, wenn im Land zur Wahl gerufen wurde. Die DDR hatte von ihm nichts mehr zu erwarten. Er suchte sich seine Nische, sammelte Briefmarken und Schallplatten. Stones-Fan ist er immer noch, aber seinen Plattenschrank hat er nach der Wende nicht mit sämtlichen Alben der Band aufgefüllt. Er beließ es bei den Stones-LPs aus den 60er-Jahren. „Ein bisschen Legende muss ja bleiben.“
Als er die Band 1990 das erste Mal wirklich erlebte, hätte er „auch mal kurz gedacht: 'Hey, wegen euch musste ich echt was mitmachen.‘ Aber natürlich habe ich ihnen keine Schuld gegeben“, sagt er.
Wer wirklich eine Mitschuld trägt, dass er zwei Monate unschuldig im Knast verbrachte, interessierte Harry Lorenz lange Zeit nicht. Jetzt hat er aber doch Einsicht in seine Stasiakte beantragt. Außerdem will er einen Amnestieantrag stellen.
Die Bundesversicherungsanstalt teilte dem 47-Jährigen nämlich mit, dass ihm bei der Berechnung des künftigen Rentenanspruchs zwei Berufsmonate fehlen. Da hilft dann auch keine Rebellion, sondern nur ein Gegenpapier, in diesem Fall die Amnestiebescheinigung.
Ein Feature zur MfS-Aktion „Jubiläum“ sendet RadioKultur am 9. Oktober um 9.00 Uhr
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