: Stilblüten des Bösen
■ Ein Verbrechen anderer Art: Der schöne Kriminalroman des französischen Schriftstellers Nicolas Bréhal „Ein Gespür für die Nacht“ ist leider recht merkwürdig übersetzt worden
Achille ist Inspektor bei der Pariser Kriminalpolizei und ein sehr unglücklicher Mensch. Er träumt von der Liebe und von richtigen Verbrechern, und weil es beides in seinem Leben nicht gibt, liest er düstere Gedichte. An diesem Abend ist es Baudelaire: Achille hat auf dem Weg zum Nachtdienst eine alte Ausgabe der „Blumen des Bösen“ erstanden. Sie scheint ihm Glück zu bringen: Als der Inspektor sich in seinem Büro gerade in „Les Epaves“ versenkt hat, wird ihm gemeldet, dass man in einer Mülltonne Teile einer weiblichen Leiche gefunden habe. Ein richtiges Verbrechen, ein grausames Verbrechen. Wie schön. Achille fühlt sich zuletzt doch noch in seiner Annahme der „Folgerichtigkeit zwischen der Literatur und dem Leben, den Wörtern und dem Tod“ bestätigt.
Das ist eine zutiefst romantische Weltsicht, die sich heutzutage nur noch Romanfiguren leisten: Achille, der traurige Polizist, der allein mit seiner Katze in einer kleinen Wohnung an der Seine lebt, ist eines der Kunstgeschöpfe des französischen Schriftstellers Nicolas Bréhal. Sein Roman „Ein Gespür für die Nacht“ erzählt von lauter Menschen wie Achille: Menschen, die es nicht wirklich gibt, aber an die man als Leser unbedingt glauben möchte. Wie die schöne Marge zum Beispiel, die mit ihren eisigen blauen Augen und ihrem anmutigen Gang an Baudelaires unbekannte Passantin aus den „Blumen des Bösen“ erinnert. Wie Sabine, die Striptease-Tänzerin, die sich hinter einer Glasscheibe in die Träume ihrer Zuschauer verwandelt. Wie Marius, den Taxifahrer, der mit seinerKamera kleine Nachtromane fotografiert, um sie zu Hause in Pappkartons einzulagern. Oder wie Gaspard, den Mörder, der willenlos inmitten dieser Figuren tötet und dessen Blutspur den Gang der Handlung vorzeichnet: „Gaspard gab mir nicht die geringste Freiheit“, lässt Bréhal seinen Erzähler erklären: „Ich musste nur noch, wie man die Fäden eines Knotens entwirrt, das Schicksal aller Personen aufrollen.“
Das ist ein schöner und ebenfalls zutiefst romantischer Kunstgriff: Nicolas Bréhal tut so, als gebe es da im Innern seines Romans ein verborgenes Ordnungsprinzip, das Autor, Erzähler und Figuren zu abhängig Beschäftigten macht. Gleichzeitig nimmt er sich jede nur mögliche stilistische Freiheit, und „Ein Gespür für die Nacht“ ist so zu einem Roman geworden, der vom Klang seiner Sprache lebt und in dem man liest, wie man das Konzert eines sommerlichen Großstadtregens belauscht: Ein Plätschern erst, dann Tropfen, die immer schwerer auf die Dächer fallen, zuletzt die tosenden Sturzbäche, die sich über die Straßen und Hinterhöfe ergießen, bis der Regen sich dann wieder zu einem leisen Flüstern abschwächt, wie der melancholische Achille es manchmal als innere Stimme hört: „nicht wirklich eine Stimme, eher wohl das sanfte Geräusch einer Brise in den Blättern eines Baumes, die aber verständliche Worte flüsterte“.
Vielleicht hat Nicolas Bréhal ein wenig hoch gegriffen, als er die vier großen Nachtkapitel, in die sich sein Roman unterteilt, „Nocturnes“ genannt hat, doch ein wenig ähneln die perlenden Wörter und die verspielten Melodieliniensätze seiner Sprache schon dem Klang der „Nachtstücke“, mit denen Chopin damals (in Zeiten Baudelaires!) berühmt wurde. Nun kann man nicht stundenlang Chopin hören, und auch ein Sommerregen wird einem irgendwann zu viel. Darum könnte einem wohl „Ein Gespür für die Nacht“ zuletzt ein wenig langweilen. Doch das wäre vielleicht gar nicht so schlimm – ganz doll aufregende Bücher gibt es ja genug –, wenn es da nicht noch im ganz wörtlichen Sinne ein Interpretationsproblem gäbe.
Die deutsche Fassung von „Ein Gespür für die Nacht“ ist nämlich eine dieser Übersetzungen, die einem schon auf den ersten Blick ganz krumm und schief vorkommen. Verena Nolte, so heißt die Übersetzerin, baut zum Beispiel endlos verschachtelte Sätze und bereichert die deutsche Sprache durch erstaunliche Partizipialkonstruktionen – da gibt es unter anderem die grammatikalisch sehr mutig in Szene gesetzte „Ermordete, die wahrscheinlich, sich zur Wehr setzend, Zeit gehabt hatte, Gaspard ein paar Barthaare auszureißen“. Und dann hat der deutsche Verlag es obendrein vorgezogen, Baudelaire aus den expressionistisch verdüsterten und orthografisch verschatteten Nachdichtungen Stefan Georges zu zitieren. Da kann man sich dann nur noch wundern und das möglicherweise sehr schöne Buch schnell wieder zuklappen.
Das einzig Lustige ist, dass ein einsames „Je t'aime“ auf Seite 264 einfach gar nicht übersetzt ist. Vermutlich ist das als ein kleines folkloristisches Dankeschön an das französische Kultusministerium gedacht, das diese Übersetzung mit finanziert hat. Kolja Mensing
Nicolas Bréhal: „Ein Gespür für die Nacht“. Aus dem Französischen von Verena Nolte. Klett-Cotta. Frankfurt am Main 1999. 383 Seiten, 39,80 DM
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen