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In der Türkei mag sich vor dem EM-Qualifikationsspiel gegen Deutschland der sonst übliche Überschwang nicht so recht einstellen ■ Aus Istanbul Jürgen Gottschlich
Einen Tag vor dem Europameisterschafts-Qualifikationsspiel gegen die deutschen „Panzer“ in München wurde die türkische Fußballwelt noch von einem ganz anderen Ereignis beherrscht. Einer der drei Istanbuler Traditionsvereine, die gelben Kanarienvögel von Fenerbahce, ist gegen einen zweitklassigen ungarischen Club aus dem Uefa-Pokal rausgeflogen. Schande, Schande. Der Nachfolger des geschassten deutschen Trainers Löw, der in der letzten Saison mit Fener nur den dritten Platz erreichte, musste auch gleich wieder gehen und nun soll es ein Trainerimport aus Tschechien richten. Doch das wird nicht ganz leicht werden.
Einer der Gründe für das Versagen der hoch bezahlten Fener-Kicker sind die psychischen Folgen des katastrophalen Erdbebens vom 17. August. Das wird auch in der morgigen Begegnung in München eine Rolle spielen. Mustafa Denizli, der türkische Nationaltrainer, wird Mühe haben, seine Mannen wirklich zu motivieren und sie dazu zu bringen, sich auf das Spiel zu konzentrieren. Zu sehr ist das Leben jedes einzelnen türkischen Kickers nach wie vor vom großen Beben überschattet. Um den Nationaltrainer zu unterstützen, hat der Fußballverband eine ansehnliche Siegprämie in Aussicht gestellt. 40 Milliarden Lira, rund 160.000 Mark, plus einen Landrover soll jeder Spieler im Falle eines Sieges bekommen.
Zwar erzählt Stürmerstar Hakan Sükür, der in Bursa im letzten Jahr das Tor zum 1:0-Sieg gegen die deutsche Nationalelf schoss, pflichtgemäß, wie wichtig doch eine Sieg und die Teilnahme an der nächsten Europameisterschaft wäre, doch das Land ist weit entfernt von einer Fußball-Hysterie. Die letzten Spiele, die hier wirklich große Beachtung gefunden haben, waren Erdbeben-Benefiz-Begegnungen, unter anderem gegen griechische Clubs, was einen besonderen symbolischen Wert hatte. So war es seit Jahren das erste Mal, dass Galatasaray Istanbul gegen Saloniki spielte. Dass Istanbul gewann, spielte da schon gar keine Rolle mehr. Auch jetzt, bald zwei Monate nach dem verheerenden Beben vom 17. August, ist das gesamte Land nach wie vor derart traumatisiert, dass sich der sonst übliche Überschwang vor großen Fußballereignissen einfach nicht einstellen will. Die Trauer über die mehr als 20.000 Toten ist längst nicht vorbei, und wer sein Haus verloren hat und nun im Zelt auf den Winter wartet, kann sich schwerlich mit echtem Genuss dem Fußball widmen.
Dabei werden die Chancen der türkischen Mannschaft für das heutige Spiel durchaus nicht schlecht eingeschätzt. Die türkische Nationalmannschaft hat die letzten sechs Auswärtsspiele seit 1996 gegen andere europäische Mannschaften gewonnen. Nationaltrainer Denizli setzt für die heutige Begegnung auf eine starke Deckung, will die Deutschen kommen lassen und dann auskontern. Hakan Sükür gilt auch heute wieder als gefährlichster Angreifer.
Natürlich werden trotz der gedämpften Stimmung heute Abend alle vor dem Fernseher hängen und auf das große Tor von Hakan warten. Doch wenn es nicht kommt, falls die türkische Elf verlieren sollte, wird das auch nicht weiter tragisch sein. Und selbst ein Sieg wird die türkische Gesellschaft nur für einen kurzen Moment das große Beben vergessen lassen.
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