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Zugriff auf die Biomasse

Der Heidelberger Professor Gunther von Hagens ist mit der Plastination von Leichen zum erfolgreichen Künstler zwischen Medizin und Unterhaltung geworden. Die Totenvermarktung geht weiter, derzeit sind seine „Körperwelten“ in Basel zu sehen  ■   Von Jochen Becker

Vorletztes Jahr noch wollte Baden-Württembergs Ministerpräsident ErwinTeufel die Mannheimer Sonderausstellung „Körperwelten“ stoppen. Zu fragwürdig erschienen die Einblicke in den menschlichen Körper „anhand präparierter Leichen“. Das filigrane Aderwerk eines männlichen Unterkörpers, ein aus seinem Skelett heraustretender Muskelmann, ein Körper voll chirurgischer Fenster, die wie Blätterteig aufgefächert sind, oder ein rundum versorgter Prothesenmensch mit künstlichen Gelenken, Knochenplatten, Herzschrittmacher und chirurgischen Spreizern reizten zu heftigen Widerspruchsdebatten. Am Ende reisten 800.000 Gäste zum Landesmuseum für Technik und Arbeit, der Publikumsansturm zwang zu einer Verlängerung der Ausstellung. Kinder – unter 14 Jahren nur in Begleitung von Erwachsenen – wie Rentner begutachteten ebenso wissbegierig wie andächtig die aufgebauten Körperscheiben, Magenschleimhautentzündungen, Fortpflanzungsorgane oder ein wie eine Russenpuppe auf drei Meter expandiertes Präparat.

„Ich glaube, es kommen mehr Leute als zur documenta“, hatte der Heidelberger Ausstellungsinitiator Gunther von Hagens schon vorab im Spiegel geäußert. Zuletzt standen 15.000 Menschen täglich bis tief in die Nacht für mehrere Stunden Schlange, um die über 200 echten menschlichen Exponate zu sehen. Solche Besucherstürme wird die aktuelle Tourneestation in der Basler Messehalle 5 vermutlich nicht mehr erreichen. Doch schon das grenzüberschreitende Marketing, die Verkoppelung mit Bahnangeboten oder die Verlagerung aus dem Museum in Messehallen weisen den Weg zur Volksbelustigung. War die Ausstellung in Mannheim noch museal gefasst und von MedizinstudentInnen betreut, wurde die Wiener Station zuletzt schon auf Spektakel getrimmt: Neben Katalog-, Video- und CD-ROM-Verkauf wird das Andenken-Merchandising mit T-Shirts und Postern forciert. Nun heißt die Ausstellung reißerisch „Prof. Gunther von Hagens' Körperwelten – Die Faszination des Echten“ und wird von der federführenden Heidelberger Plastination-Exhibitions GmbH mit mehrsprachigem Folder touristisch beworben.

Die Anatomie wurde 300 vor Christus in Ägypten und Griechenland entwickelt. Im Abendland wurden insbesondere Gehenkte, Enthauptete oder Selbstmörder – allesamt der Bestattung nicht würdig – seziert. So stellten noch bis in die Sechzigerjahre bundesdeutsche Sozialämter der Medizin herrenlose Leichen zur Verfügung. Dabei sind Mumifizierung und Einbalsamierung, der Schrumpfkopf oder die Lagerung in Alkohol alte Fertigkeiten, die später durch Leonardo da Vincis Wachsabformungen eine neue Qualität erfuhren. Mittels Methanol, Formaldehyd, Glyzerin oder Phenol gelang es zur Jahrhundertwende, nun auch Muskelpartien und innere Organe zu präparieren.

Erst mit der 1977 durch Gunther von Hagens in Heidelberg entwickelten und dank der benachbarten Chemieindustrie weiter verfeinerten Plastination lassen sich auch ganze Körper stabil und realistisch fixieren. Hierzu werden den Resten der unter einer Feinmechanikerlupe mühevoll herunterpräparierten Leiche mit Vakuum ihre Körperflüssigkeiten wie Fette entzogen und durch bis zu zehn verschiedene Kunststoffe ersetzt. Erst nach mehreren Wochen lässt sich die voll gesogene Leiche erhärten, wobei je nach Exponat bis zu 1.000 Arbeitsstunden in Rechnung gestellt werden. Denn von Hagens' privatwirtschaftlich operierendes „Institut für Plastination“ (IfP) verkauft die Präparate für bis zu 50.000 Mark, wobei die ursprüngliche Leiche laut Gesetzgeber kostenfrei veräußert werden muss.

Die Wissenschaft als Dienstleistung

Die Plastination gilt für von Hagens als wertschöpfendes Kunsthandwerk, werden doch wie beim Bildhauer die Leichen freipräpariert und in Posen inszeniert. Nach seiner Lehrtätigkeit als Anatom der Universität Heidelberg gründete er eine eigene Firma, da im Rahmen der öffentlichen Anstalt „geldwerte Dienstleistungen“ nicht gestattet sind. Von Hagens' Ehefrau, Mitarbeiterin und zugleich Ausstellungsveranstalterin, Angelina Whalley, bietet unter dem Firmennamen Biodur Products unter der gleichen Heidelberger Adresse Kunststoffe und Hilfsmittel für die Plastination an. Das IfP ist mit einem Jahresumsatz von 2 Millionen Mark, sieben Beschäftigten und weiteren freien MitarbeiterInnen im wahrsten Sinne des Wortes eine Garagenfirma für den Weltmarkt. Die Präparate werden allerdings nur an medizinische Einrichtungen oder Museen abgegeben.

Während der Heidelberger Direktor am Institut für Anatomie und Zellbiologie, Wilhelm Kriz, den freien Zugang zur Beschäftigung mit dem Körper lobte, erhob dessen Geschäftsführer öffentlich Anklage. Hier würden zum ersten Mal konservierte Leichen in einem Museum der Öffentlichkeit präsentiert, womit ein doppelter Tabubruch die Präsentation prägt: Zum einen hatten bislang allein Mediziner das „Körperschauprivileg“; zum anderen ist die Begutachtung des menschlichen Leichnams aus diversen Gründen beschränkt, die von der Hygiene über den Handel mit Körperteilen bis hin zu religiösen Vorstellungen – etwa der Wiederkehr im Fleische – reichen. Weiterhin würde diese neue Form „postmortaler Existenz“ (von Hagens) den kirchlichen Anspruch auf menschliche Ewigkeit unterhöhlen. Nun sind am Eingang Warntafeln angebracht, die vor der Verletzung ethischer oder religiöser Empfindungen warnen.

Von Hagens' Ausstellung ist ein Politikum und auch eine Sensation. Andererseits lassen Neonlicht, verständliche Texttafeln, nüchterne Metallvitrinen oder wie im Krankenhaus eingetopfte Pflanzen Gedanken an ein Leichenschauhaus und Gruselkabinett nicht aufkommen. Während der Splatter-Film in seiner theatralen Drastik vor Ketchup trieft, bleibt in der Messehalle alles so aseptisch sauber, geruchsfrei, wurmfraß- und flüssigkeitslos wie in den Besuchertrakten eines High-Tech-Klinikums.

Trotzdem verzichtet die Ausstellung nicht auf die bekannten Schocker wie siamesische Zwillinge oder Hirngeschädigte, die in einer Reihe mit Embryos, Föten und einer aufgeschnittenen Schwangeren gezeigt werden. Zwar ist die wenige Monate alte Körperfrucht augenscheinlich nicht mehr als eine fingerkuppengroße Gewebemasse, spielt jedoch durch schrittweise Sichtbarmachung des „werdenden Lebens“ Abtreibungsgegnern ebenso wie Eugenikern in die Hände.

Die Ausstellung unterstützt den Wunsch der BesucherInnen, sich selbst ein Bild von dem zu machen, was sich im Inneren abspielen mag. Hier liegt kein Röntgenfilm, Ultraschallmonitor oder Ausdruck vom Kernspintomografen vermittelnd zwischen Patient und Mediziner. Die BetrachterInnen haben dank der Plastinate einen scheinbar unmittelbaren Zugang zu dem, was sie als ihren eigenen Körper verstehen, obgleich sich dieser einzig im toten Gegenüber widerspiegelt. Dieser durchaus aufklärerische Ansatz wendet sich von der vorherrschenden Apparatemedizin ab, setzt an dessen Stelle allerdings den Menschen als Apparat. So wird das Nervensystem mit einem Telefonnetz verglichen, ohne das ein moderner Staat „schnell handlungsunfähig“ wäre. Den Auftakt der ausgestellten Plastinate bildet ein Mensch, dessen Körperteile didaktisch aufgefächert in der Luft verharren, wie in einem „Jetzt-helfe-ich-mir-selbst“-Handbuch zum VW Golf.

„Wir wissen nicht, wie diese Menschen gelebt haben, wer sie waren und wie sie gestorben sind. Wir kennen nicht ... ihre Lebensgeschichte.“ Genau dieses Absehen des Biografischen wie Sozialen, das den Menschen auf seinen Funktionsapparat reduziert, reduzieren die Krankenbilder sowie die daraus resultierenden Schwangerschaftsabbrüche, Transplantationen und chirurgischen Eingriffe aufs Reparieren oder Verschrotten. Psychosoziale Krisen lassen sich schlecht an den Nervenbahnen ablesen; Mangel durch Armut oder Überbeanspruchung hinterlassen kein vorzeigbares Exponat.

„Mit Ihrer Körperspende stimmen Sie nicht in den Chor der vielfach zu hörenden Klagen über schlecht ausgebildete Ärzte ein“, so fordert in einer Informationsbroschüre gegen Ende der Institutschef die BesucherInnen zur Selbstverpflichtung auf. Danksagung an die toten wie auch die noch lebenden Körperspender, „die eventuell sogar posthum Teil dieses Museums werden“, gehen dem Katalog voran. Ein eigenes Museum soll schon bald gegründet werden, für das schon jetzt eigene Plastinate gegen historische Präparate eingetauscht werden.

Der alternative Blick ins eigene Innere

Um die „Körperwelten“ lagern sich geballte Erwartungen, die von hehrer Aufklärung und Gesundheitserziehung über mehr Eigenverantwortlichkeit und Wertschätzung des eigenen Körpers bis zur Reformation der Anatomie in Deutschland reichen. Weiterhin soll der nachlassenden Bereitschaft zur Organspende oder einer spürbaren „Hinwendung zur Alternativmedizin“ entgegengewirkt werden. Denn die Präparate stellen eine optische Brücke zwischen dem Betrachter und dem Inneren seines Körpers her: „Ihre Authentizität fasziniert, regt an, macht den Betrachter aufnahmebereit, bietet eine Chance, die negativen Tendenzen in der öffentlichen Meinung [in der Bewertung des medizinischen Fortschritts, d. A.] umzukehren.“

Auf der Rückseite der Mannheimer Eintrittskarte wurde damals für die anschließende Mammutschau „Gen-Welten“ geworben. Diese zeitgleich an vier Orten angesetzten propagandistischen Shows machten über ein Dreivierteljahr lang für Gentech Stimmung. Die im Unterschied zu den „Genwelten“ scheinbar anachronistische Anschaulichkeit der „Körperwelten“ trifft sich in den gemeinsamen Verfügbarkeits-Fantasmen über die Biomasse. Im Katalog wurde zwischen den beiden Welten schon die Brücke geschlagen: So sei ein Gen gefunden worden, das den Alterungsprozess aufhalte, weshalb wohl die Präparation überflüssig würde. Ob auch hier Ministerpräsidenten, Kirchen oder medizinische Berufsverbände öffentlich Alarm schlagen?

„Körperwelten“ bis 30. 11. in Halle 5 auf dem Messegelände Basel. Eine Verlängerung bis zum 5. 1. 2000 ist schon eingeplant. Der Katalog in seiner nunmehr 6. und erweiterten Auflage wird vom Institut für Plastination Heidelberg herausgegeben, umfasst 240 Seiten und kostet 38 Mark. Infos unter: www.koerperwelten.com

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