: Selig in den Bücherbergen
Du brauchst nur die Bücher, die du brauchst: Das ruinöse Modell einer Ökonomie des Bücherlesens, des Bücherkaufens und -besitzens und warum die Verdächtigung, ja Verurteilung des Überflusses stets zu den Basisoperationen der Kulturkritik gehört ■ Von Michael Rutschky
Lange habe ich nicht mehr an Ü. gedacht. Das war eine Art Cousin, mit dem mich in der Kindheit und Jugend Freundschaft, aber auch eine tiefe Rivalität verband. War ich ihm in puncto Körpermuskulatur hoffnungslos unterlegen, woran keiner von uns beiden irgendeinen Zweifel hegte, so beunruhigten ihn doch die Kräfte meines Kopfes, denn er liebte – wie so viele Jünglinge – profunde philosophische Erörterungen, und hier trug ich für sein Empfinden meist den Sieg davon.
Ü. führte meine überlegene Kopfkraft darauf zurück, dass ich so viele Bücher besaß – nein, so deutlich sagte er das nie. Er musste anerkennen, dass die Zeit, welche er auf die sportliche Vervollkommnung seiner herrlichen Muskeln verwandte, von mir mit Lesen verbracht wurde, mit den entsprechenden Folgen für unsere Disputationen. Andererseits witterte er Schmu.
Immer wieder nämlich stand er in meiner Gymnasiasten-, später der Studentenbude vor dem Bücherregel, quälte sich ein überlegenes Lächeln ab und bezweifelte, „das man so viel Bücher gelesen haben kann“. Er fühlte sich offenbar eingeschüchtert, zurückgesetzt, verkleinert durch die einfache Menge meiner Bücher, bei unseren Gedankenwettkämpfen benachteiligt. Er konnte sich nur wehren, indem er bezweifelte, dass der Reichtum meines Bücherschrankes bereits restlos in den Besitz meines Gehirns übergegangen sei. Die Büchermenge im Schrank – das war doch bloß Angeberei, Täuschung über den realen Kopfinhalt.
Ü. ist, soweit ich weiß, Geschäftsmann geworden statt Philosophieprofessor. Irgendwann hat sich das Grübeln gelegt. Wir haben uns vollständig aus den Augen verloren – aber es kann gut sein, dass ihm, stünde er heute in meiner Bibliothek, direkt über die Lippen käme: „Das kannst du doch unmöglich alles gelesen haben!?“ Ü. hing also einem Modell für die Ökonomie des Bücherlesens an, das ihn, folgte er dem Modell als Geschäftsmann, längst ruiniert hätte. Eine Art Subsistenz-, wenn nicht Mangelwirtschaft. Du brauchst nur die Bücher, die du brauchst, Überschuss ist eitel und dient einzig dem Prestigekonsum. Ü. sah meine Bücherwand wie den überfüllten Kleiderschrank einer reichen Dame: „Das kannst du doch unmöglich alles regelmäßig anziehen?!“ Ähnliche Reaktionen kennen wir von Ostdeutschen, als sie das erste Mal vor dem schön aufgebauten Buffet standen: „Wer soll das alles essen?!“ Die Speisenpracht hat der Gastgeber doch bloß aufgebaut, um dir mit seiner Macht und seinem Reichtum zu imponieren; keineswegs, um dich lecker zu ernähren.
Puritanische Kader predigen Mäßigung
Die Verdächtigung, ja Verurteilung des Überflusses gehört zu den Basisoperationen der Kulturkritik. Immer wieder ergreifen franziskanisch oder puritanisch inspirierte Kader das Wort und predigen Mäßigung, Sparsamkeit, Askese. Warum einigen wir uns nicht auf einen Kanon von Grundbedürfnissen und legen fest, wieviel an Wolfsbarsch-Carpaccio, Seidenkleidern, Flanellanzügen, guten Büchern die Menschheit ein für alle Mal braucht?
Im Hinblick auf den Bücherreichtum gerät die franziskanische Predigt (die in puncto Atomstrom so leicht greift) sofort in große Schwierigkeiten.
Einerseits schwebt über der zerklüfteten, unübersichtlich besiedelten, unwiderruflich ausdifferenzierten Landschaft unserer Zivilisation immer noch das Phantasma, dass wir eine durchgreifend neue Einheit zu erstreben nicht aufhören sollten. Dass wir sie fänden, wenn wir alle anderen Bücher mehr-minder ignorierten und zum Buch der Bücher zurückkehrten.
Zugegeben, dieser Gedanke ist gegenwärtig kaum mehr als ein Phantom. Gern schalte ich im offenen TV-Kanal den zwanghaften Evangelisten im besten Mannesalter ein, der mir aus seiner großen Bibel, die vor ihm aufgeschlagen auf dem Pult liegt, ohne sich ein einziges Mal zu versprechen, die Zeichen der Zeit deutet, die auf das Ende der Zeiten deuten, wie es verkündet ward. Dann folgt der vollbärtige junge Mann, bäuerlich-schüchtern, der ungefähr dasselbe sagt, was ich freilich nicht überprüfen kann, weil er Arabisch spricht – mit leisem Bedauern, aber auch Hohn muss ich feststellen, dass dem jungen Imam weit mehr Überzeugungskraft zukäme (wenn ich ihn verstünde).
Es hat mich immer gewundert, dass während der Postmoderne nicht viel mehr nihilistisch verwirrte Intellektuelle zur römischen Kirche konvertiert sind (in Analogie zu den nihilistisch verwirrten Romantikern des 19. Jahrhunderts). Erst jetzt, am Ende der Neunziger, stößt man bei jüngeren Kadern der Intelligenzija zuweilen auf einen seltsamen Woityla-Kult; der Urmeter für Moral und Sittlichkeit werde im Vatikan verwahrt, und dorthin sollte die Gesellschaft, sollten die anderen Leute regelmäßig wallfahren, um ihre Messinstrumente zu justieren.
Ich selber natürlich nicht. Denn ich würde damit nicht nur zum Buch der Bücher zurückkehren, ich müsste zugleich anerkennen, dass es nur einen einzigen legitimen Leser hat, den Papst, der mit unumstößlicher Autorität verkündet, was zu lesen sei. Und das mag, wie gesagt, ein auf die anderen Leute mit ihren geheimen und abartigen Leidenschaften sinnvoll zu applizierender Gedanke sein; auf mich und meinesgleichen aber keineswegs – aber ich schweife ab.
Bemerkenswert an dem Gedanken, dass es eigentlich nur ein einziges Buch geben darf, ist freilich noch, dass er vermutlich jeden Autor erfüllt, der an einem sitzt: seines nämlich. Bei Lesern findet sich der Gedanke meist schon verdünnt: Sie können eine ganze Reihe von Büchern nennen, die ihnen wenigstens zu gewissen Zeiten ihres Lebens als das Buch der Bücher erschienen – aber dann kam irgendwann das nächste.
Im übrigen schwelgt das Volk der Leser ohne Rücksicht auf asketische Predigten darin, dass es so viele Bücher gibt, dass immer wieder Massen dazukommen. Der Gedanke, dass irgendwann alles ausgelesen sein könnte, wäre einer der schrecklichsten Abkömmlinge der bekannten Verarmungs- und Verhungerungsangst. Damit du selbst stets auf einen reichen Vorrat zurückgreifen kannst und nicht auf Panikkäufe und hektische Ausleihen in der öffentlichen Bibliothek zurückgeworfen werden kannst, deshalb enthält dein Bücherschrank ja so viele Bücher, die du angeschafft hast, weil du sie eines Tages zu lesen wünschen wirst. Ein Bücherschrank, der bloß die gelesenen enthielte – wie Cousin Ü. sich das als rationalistischer Jüngling vorstellte – wäre doch fast so etwas wie ein Friedhof ... Es existiert wohl kein anderes Feld, wo man sich mit seinen eigenen Wünschen dergestalt materiell umstellen kann: Bücher, die man erst noch lesen möchte. Feine Nahrung (die man erst noch essen möchte) vergammelt bekanntlich über kurz oder lang.
Freilich lernt man, wenn ich mich richtig erinnere, den immer weiter anwachsenden Berg der Bücher als Ort der Seligkeit nur langsam schätzen. Die Jugend des Volkes der Leser kann der Berg schwer einschüchtern (auch dafür legt Cousin Ü. Zeugnis ab): Man müsste, seufzt der Jüngling, schon so viel gelesen haben – und dann kommt jedes Jahr so viel Neues dazu – das schaffe ich doch nie ...
Gut erinnere ich mich, wie diese Angst von mir wich, als ich mein erstes Universitätsexamen hatte. Da erschien mir die Universitätsbibliothek, auch jede ordinäre Buchhandlung plötzlich als Schlaraffenland, in dem ich mich jederzeit von Herzen bedienen könnte. Während Bibliothek und Buchhandlung mich vor der Prüfung als der unüberwindliche Reisberg bedrückt hatten, durch den ich mich nie und nimmer ins Schlaraffenland würde hindurch fressen können.
Das Angstschema der Frankfurter Buchmesse
Dasselbe Angstschema hat meinen ersten Besuch auf der Frankfurter Buchmesse bestimmt. Wenn jedes Jahr solche Büchermassen dazu kommen, wie soll ich da je ans Ziel gelangen? Plagte unsresgleichen als Jungmenschen natürlich die Frage: Wie wird es mit dem Buch gehen, das du selbst so dringend zu schreiben wünschst? Wie soll mein Buch in diesen Bergen deutlich in Erscheinung treten, statt bloß als einer von vielen Kieseln auf der Geröllhalde zu verschwinden?
Dies Aktionsfeld bleibt dem Gedanken, eigentlich dürfte es nur ein einziges Buch geben, immer erhalten: Eigentlich dürfte es nur das Buch geben, das du eben veröffentlicht hast. Für den Leser dagegen verlieren die Bücherberge im Lauf der Zeit alles Beängstigende. Während der Jungmensch, der noch so viel Lebenszeit vor sich hat, so oft von Ungeduld geplagt wird, überblickt der Alternde, dem zunehmend Lebenszeit abhanden kommt, das Feld der Möglichkeiten, auch der Lesemöglichkeiten mit Behagen, weil er die Möglichkeiten keinesfalls ausschöpfen wird.
Weil die Kulturkritik sich gegenwärtig andere Felder für ihre Unheilsprophezeiungen erwählt hat – insbesondere das kommerzielle Fernsehen –, sind die Debatten über Schmutz und Schund, die sich früher so gern an der kommerziellen Buchproduktion entzündeten, so gut wie eingeschlafen. Dass das Volk der Leser darüber alle Einbürgerungsbeschränkungen aufgehoben hätte, darf man trotzdem nicht behaupten; Lesen bleibt eine scharf klassenspezifische Kommunikation, bis auf weiteres.
Aber es kommt mir so vor, als betrachte unsereins die Neuankömmlinge, wie sie da in der U-Bahn sitzen, in dicke Taschenbuchromane oder Ratgeber oder Historien vom Untergang der Titanic versunken, unterdessen mit mehr Wohlwollen. Sie gehören doch auch dazu.
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