: Morden, um die Zeit totzuschlagen
■ „norton.commander.productions“ mit Genetik Woyzeck auf Kampnagel
Da mag einer an der schlechten Welt verzweifeln und „hirnwütig“ werden, und ein anderer mag ein Drama daraus machen. Doch 162 Jahre später möchte man mehr an den Medien verzweifeln, und zwei andere mögen eine Videokonferenz daraus machen. Und wo Georg Büchner sich noch ein gewöhnliches Bühnenstück erdachte, braucht das Dresdner Künstlerpaar Harriet Maria Böge und Peter Meining alias norton.commander.productions drei Leinwände, acht Monitore, eine Mikrokamera, ein Soundsystem und – dann doch noch – den einen qualifizierten Darsteller, den das alles tödlich quält. Und das ist der bekannte Lars Rudolph – in Genetik Woyzeck auf Kampnagel.
Doch ebenjener arme Kerl wird nicht mehr von kruden Offizieren und dreisten Doktoren, untreuen Frauen, blöden Burschen und heiligen Narren verfolgt, sondern von den fernsehbildnahen Berühmtheiten des Kulturbetriebs: Ben Becker und Christoph Schlingensief, Markus Lüpertz und Udo Lindenberg, Ulrich Wildgruber und Nick Cave, Otto Sander, Eva Mattes oder Dr.Motte sind einige der über 30 veritablen Stars, die in einzeln erstellten Film-Takes mit Büchners Worten auf den zunehmend vom Wahn Umstellten einreden. Robert de Niro und Jack Nicholson haben allerdings dankend abgesagt, bei der multimedialen Versuchsanordnung mitzuwirken.
Am Ende der 24 Bilder der technisch aufwendigen Performance, am Ende der wahnhaften Verstrickung, in der die aufgezeichneten Dialogstellen des Theaterfragments einen Zusammenhang einfordern, den der einzelne Mensch nicht mehr ohne Verlust seiner Integrität ertragen kann, am Ende ists geschehen, und es war „ein guter Mord, ein schöner Mord, so schön als man ihn nur verlangen tun kann“. Und dann ist es also so, wie es eigentlich jeden Abend im Fernsehen auch zugeht: Der reale Körper wird abgetötet, indem die kalten Augen die virtuellen Morde verfolgen. Morde sind immer gut, um die Zeit totzuschlagen. Denn was, fragt sich Büchners Hauptmann gleich in der ersten Szene des Dramas, „will er denn mit der ungeheuren Zeit all anfangen?“ Hajo Schiff
14. – 16., 21. – 23. Oktober, 20.30 Uhr, k6, www.n-c-c.de
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