: Ein ganzes Leben in der Statistik
Seine 100 Punkte in einem Basketballspiel sind legendär, doch die Karriere des am Dienstag verstorbenen Wilt Chamberlain umweht auch ein Hauch von Tragik ■ Von Henning Harnisch
Berlin (taz) – In seiner Spätphase, als er für die Los Angeles Lakers spielte, da hatte ich das Glück, ihn spielen zu sehen – wenn es auch nur ein Highlight-Video war. Wilt Chamberlain. Aber was für ein Eindruck: Groß, mächtig und stark wirkte er, wenn er, zugleich bestimmt und elegant, sich in Richtung Korb bewegte. Den Ball wie eine Tenniskugel in der Hand, mit Frottee-Stirnband das Gesicht geschmückt, vermittelte er mir augenblicklich das Gefühl, auf dem Platz zu sein. Allein unter Kleineren; das Spiel, für ihn, zu einfach. Er war einfach zu gut.
Wilt Chamberlain war die vollendete Basketballgröße, nicht nur groß wie ein Baum (2,16 Meter), sondern gleichzeitig athletisch wie ein Zehnkämpfer und, um das Gesamtkunstwerk komplett zu machen, dazu noch technisch geschickt – zumindest so, wie es einem Riesen möglich ist.
Vor mir liegen die Statistiken: 100 Punkte in einem Spiel; in einer Saison 50,4 Punkte im Schnitt; in insgesamt vierzehn Jahren NBA (1959 bis1973) 31.419 Punkte und 23.924 Rebounds. Vor mir liegt ein Leben in der Statistik; die Zahlen sind fassbar – da von jedermann lesbar –, aber auch, Kraft ihrer Größe, unfassbar, und, bei vertiefter Lesart, beinahe tragisch.
Tragisch? Warum tragisch? Wie viele geschichtlichen Größen hatte auch Wilt „the Stilt“ (Wilt, der Pfeiler) seine persönliche Nemesis: den Center der Boston Celtics, Bill Russell. Russell teilte mit Chamberlain Körpergröße und Karrierezeitraum, aber nicht annähernd die individuellen Statistiken. Da war Russell chancenlos. Wilt Chamberlain war der komplettere Angriffsspieler, so komplett, dass die Leute froh waren, dass er zumindest an der Freiwurflinie schwächelte – „Ein Mensch!“
Zeigt Russell aber seine Hände, muss man das Modell der persönlichen Statistiken überdenken: Während der Punktekönig Chamberlain magere zwei Ringe für gewonnene Meisterschaften vorzeigen konnte, war Russell so eifrig im Titelsammeln, dass zehn Finger zum Vorzeigen nicht ausreichten: elf Ringe sind auch für eine Bratpfanne als Hand einfach ein Ring zu viel. „Er ist einfach gierig“, sagte Chamberlain kürzlich scherzhaft über seinen langjährigen Rivalen.
Vielleicht sollte man 100 Punkte nicht mit elf Meisterschaften vergleichen, vielleicht sollte man Chamberlains Korbwut nicht mit den Qualitäten des Defensiv-Spezialisten Russell konkurrieren lassen, der außerdem in all den Jahren beinahe immer die besseren Mitspieler um sich scharen konnte. Vielleicht sollte man sich vielmehr fragen, was es eigentlich bedeutet, in einem Spiel 100 Punkte zu erzielen? Ganz nüchtern: 100 Punkte sind mindestens 50 Würfe auf den Korb (Wilt brauchte 69 Würfe); 100 Punkte sind Kraft und Größe eines Goliath, dazu das Geschick eines David. 100 Punkte sind Mitspieler, die ihre kalten Hände reiben.
Aber: 100 Punkte sind auch, ganz genau wie ein 50-Punkte-Schnitt, der Wert, an dem zukünftig gemessen wird: „Hast du gehört, Wilt hat nur 40 gemacht“. Und – ohne Meisterschaften – sind 100 Punkte ganz einfach nur ein statistischer Wert.
Fragen Sie Michael Jordan, fragen Sie ihn, wann für ihn der Punkt erreicht war, positive Karrierebilanz zu ziehen. Gewiss wird er Ihnen antworten, dass dieser Punkt nicht nach den ersten meisterschaftslosen Scoring-Titeln eingetreten ist. Statistiken sind wunderbar, aber Erfolg wird nach einer Mannschaftskategorie gemessen: nämlich der gemeinsamen Meisterschaft. Chamberlain aber war eher Einzelkämpfer als jemand, der auch seine Teamkollegen besser macht. Umso tragischer, dass sich seine wahrhaftige Grösse, sein Stellenwert für die Sportart, nicht in den, immerhin, zwei gewonnenen Meisterschaften ausdrückt, sondern im – teilweise unfairen – Vergleich mit Bill Russell und der Crux mit den 100 Punkten. Ein Leben in der Statistik; ein großes Leben.
Außerhalb des Spielfeldes zählte Wilt eifrig weiter, so weit, dass auch sein Liebesleben zu einer Rekordstatistik geriet: 20.000 Frauen habe er im Bett gehabt, protzte Chamberlain in seiner Autobiografie.
Statistiken sind fassbar – weil lesbar –, Statistiken sind aber, Gott sei Dank, nur ein Teil der Geschichte. Wilt Chamberlain ist am Dienstag im Alter von 63 Jahren an einem Herzinfarkt gestorben.
40.000 mal Danke!
40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen