: Johnny Marr, Gitarrist und Gott
■ Perfekt singen allein genügt nicht: Morrissey weckte im Pier 2 Erinnerungen an die selige und im Streit aufgelöste Band „The Smiths“ und sein Co-Genie Johnny Marr
„Ob er meine Küsse gesehen hat?“, fragte nach dem Konzert ein in Gruftie-schwarz gewandetes türkisches Mädchen aufgeregt die ähnlich ausgestattete deutsche Freundin. Und: „Ich kann bestimmt heute Nacht nicht schlafen.“ Keine Frage: Stephen Patrick Morrissey hat auch im Jahr acht seiner Solo-Karriere noch nichts von seiner Anziehungskraft für Kajalstift-schwingende, Duftkerzen-kaufende junge Romantiker verloren.
Um sich seinen Nimbus als geschmackvoller Exzentriker, Dichter und Stimme aller traurigen Teenager zu erhalten, hatte dem englischen Sänger am Samstag allerdings ein eher mittelprächtiges Konzert genügt. Etwas mehr als eine Stunde lang gab es im Pier 2 handgemachten Gitarrenpop mit 80er-Jahre-Flair zu hören.
Song Nummer Drei war bereits „I started something I couldn't finish“, eine alte Nummer von der Band, mit der dereinst Morrissey berühmt geworden war: The Smiths. Spätestens da wurde einem klar, dass früher alles besser war – wenigstens musikalisch. Zwar herrschte damals noch Margret Thatchter in England, aber wenigstens gab es da dieses große Quartett, die wohl innovativste englische Gitarrenband der 80er Jahre. Zusammen mit dem Gitarrenzauberer Johnny Marr bildete Morrissey eines dieser Songwriter-Duos im Geiste von Lennon und McCartney oder Jagger und Richards, die mehr sind als die Summe ihrer Teile. Marrs einfallsreiche Gitarrenlandschaften – Schweinerockackord- und Gitarrensolo-frei – waren bis zum Band-zerstörenden Streit der beiden Genies der perfekte Hintergrund für die waghalsigen stimmlichen Eskapaden des verschrobene Exzentrikers mit dem vollen Bariton.
Schon dieses für Smiths-Verhältnisse mittelprächtige Stück strahlte so viele Watt heller als all das Solo-Material, die Massen bewegten sich, warfen mit Blumen, und alles war gut. Allerdings nur ein Stück lang. Dann kehrte der introvertierte Tollenträger wieder zu seinem eigenen Material zurück. Natürlich hat auch Morrissey alleine einige sehr gute Lieder gemacht. Manche von ihnen, „Boy Racer“ etwa, lebten sogar nicht nur von seiner Stimme, sondern von überraschenden Wechseln in der Tonart, von einem dauernden Hin- und Herkippen zwischen Strophe, Brücke und Refrain, die trotzdem ein wundervolles Ganzes ergeben. Hier stimmte auch die Komposition im Hintergrund, und nicht nur die magische Gesangslinie. In diesen Momenten wurde verständlich, warum der Engländer für viele noch immer ein Kultstar ist und warum so viele Autos mit auswärtigen Kennzeichen strafzettelverdächtig die Konzerthalle am Hafenbecken zuparkten.
Aber mit seinem Talent könnte Morrissey sogar Wolfgang-Petry-Songs zu wundervollen Teenie-Trauer-Hits machen. Und das weiß er leider auch und gibt sich deshalb beim Songs machen mit nur mittelprächtigen Hintergrundkompositionen zufrieden. Die Folge: Während der Maestro selbst stimmlich überzeugte und eine tolle Gesanglinie nach der anderen hinlegte, wirkte die Musik der Soloplatten oft ein wenig zu belanglos, um wirklich große Stücke entstehen zu lassen. Während man jede Smiths-Platte von der ersten bis zur letzten Minute ohne Reue hören kann, taugte Morrisseys Solowerk hervorragend für eine Best of ...-Kassette. Einige tolle Momente und außergewöhnliche Stücke standen neben vielen gewöhnlichen.
„Break up the family, so we can start to live,“ sang Morrissey beim letzten Stück des regulären Sets – eine Zeile, die zusammenfasst, was der Stimmgewaltige zu sagen hat: Die Hölle, das ist das verkorkste Private, das sind die persönlichen Kleinigkeiten, die verlogenen Sexualmoral und die lieben Verwandten. Eine schöne, getragene Bal-lade, aber auch wieder eine, die nicht halb so viel Magie besaß wie die Zugabe „Last night I dreamed somebody loved me“. Die war mindestens ebenso zart, verträumt, melancholisch und wunderschön. Aber dieses Stück ist nicht nur gut, sondern groß. Und natürlich von den Smiths. Lars Reppesgaard
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