Sehnsucht nach „Erez Israel“

■ „Der neue Chawer mit dem Motorrad“: Eine szenische Reise mit dem Thalia-Treffpunkt auf den Spuren jüdischer Auswanderer

Auf der elektronischen Anzeigetafel des HVV-Busses steht „Kibbuz ,Ejn Chajim'“, was soviel wie Kommune,Quell des Lebens'“ heißt. Von den HamburgerInnen, die den Bus mit unverhohlener Neugier betrachten, weiß das vermutlich niemand. Aber den meisten schwant, dass es in Hamburg überhaupt keinen Kibbuz gibt. Und so quittieren sie die Aufschrift mit verständnislosem Kopfschütteln oder wegwerfenden Handbewegungen. Oder gibt es den Kibbuz doch?

Zusammen mit den Darstellern des Thalia-Treffpunktes begibt sich das Publikum in Der neue Chawer mit dem Motorrad unter der Leitung von Herbert Enge auf die Suche. Die führt mit dem Bus nicht nur immer tiefer in Hamburgs Westen, sondern auch zurück in die 30er Jahre. Ständiger Begleiter ist der neue Chawer, der neue Genosse. Was wie eine Stadtrundfahrt beginnt, ist eine Einstimmung auf das Leben der Zionisten, die sich nach Hitlers Machtergreifung im Kibbuz Rissen auf ihre Auswanderung nach Palästina vorbereiten.

Während sich der Bus durch die Innenstadt schlängelt, lauschen die Fahrgäste jiddischer Musik. Plötzlich ein Ausruf: „Da! Da leuchten aus dunkelgrünen Olivwäldern zu unseren Füßen wie winzige Würfel die weißgekalkten Häuser der Dörfer.“ Dabei passieren wir in Wirklichkeit gerade den Holstenwall und biegen alsbald in die Reeperbahn ein. Nach einer Dreiviertelstunde endet die Fahrt in einem Rissener Wohngebiet. Ein Anwohner packt noch etwas in den Kofferraum seines Wagens, verschwindet aber schnell, als er die vermeintlichen Touris zu Gesicht bekommt. Vom Kibbuz keine Spur. Und trotzdem entstehen langsam Bilder vor dem inneren Auge.

Bei schönstem Herbstwetter geht es weiter durch die Wittenberger Heide. Dort tummeln sich massenweise sonntägliche Ausflügler und ihre Hunde. Während des gesamten Spazierganges rezitieren die Treffpunkt-Darsteller in klarer Sprache die von Enge zusammengestellte Montage aus Tagebucheintragungen der Kibbuz-Bewohner und Texten von Arie Goral und Arthur Koestler – zwischen allen Leuten, mitten im Wald, an der Elbe, sogar auf dem Leuchtturm. Und das ist wohl das größte Verdienst dieser szenischen Erzählung: Vielmehr noch als das Leben im Kibbuz prägt sich ein Gefühl der Gemeinschaft ein. Ein Verständnis für das Anders- und Ausgesetzsein, für den Mut, der die Juden rechtzeitig aus Deutschland brachte. Und für die Sehnsucht nach „Erez Israel“. Liv Heidbüchel

noch 23., 24., 30., 31. Oktober, 6., 7. November, jeweils 14 Uhr, Abfahrt: Thalia Theater