: Always change a winning team
Kuriose 2. Liga: Aufsteiger Alemannia Aachen steht mit einem unkonventionellen Trainernovizen mit an der Spitze, Aufstiegsfavorit VfL Bochum zittert im Tabellenkeller ■ Von Bernd Müllender
Aachen (taz) – Es war am 2. Spieltag. Aufsteiger Alemannia Aachen trat beim Bundesliga-Absteiger VfL Bochum an und ging in strömendem Regen so richtig unter. 0:5 hieß es am Ende, und auf den Tribünen wurde euphorisch darüber gestritten, ob diese toll spielende Bochumer Mannschaft am Ende wohl mit 10 oder 15 Punkten Vorsprung wieder aufsteigt. Trotz dieses neuen Trainers Ernst Middendorp, den in Bochum niemand so recht mag.
Umgehend kam alles ganz anders. Der VfL verlor Spiel auf Spiel und befindet sich mittlerweile tief im Tabellenkeller; Aachen ist in der Spitzengruppe. In Bochum haben wütende Fans einen Dauerplatz vor der Geschäftsstelle gefunden; am liebsten würden sie, spätestens nach dem unterirdischen 2:4 am Wochenende gegen Cottbus, Middendorp mindestens einen Kopf kürzer machen. In Aachen haben sie gar nicht genug Füße, um auf die Euphoriebremse zu treten, trotz der 2:4-Niederlage am Sonntag in Mainz.
Aachens Tivoli, das ist Fußball wie vorgestern. Das Ambiente in der 70 Jahre alten Arena mit ihren schiefen und morschen Tribünen könnte in einem London Arbeitervorort kaum englischer sein. Und die seit je als besonders fanatisch geltenden Fans sind zwar nicht besonders kreativ, dafür aber dauerlaut; Ehren- und sogar Pressetribüne eingeschlossen.
Alemannia hieß immer Kampffußball; die gelben Leibchen am liebsten schlammgebräunt und alles Grün wild zergrätscht. Eine fußballernde Schädlingsbrigade, die man treffend Kartoffelkäfer nannte. In den 80ern war Mittelfeld-Monster Günter Delzepich Synonym für diese Interpretation alemannianischen Ballbewegens.
Dann kam das Frühjahr 1999. Fußballer sprechen bei Erfolgen in Serie von einem „Lauf“, die Aachener haben seitdem einen Dauer-Lauf: Erst der triumphale Aufstieg aus dem Mittelfeld der Regionalliga mit elf Siegen in Folge. Und jetzt: ein ganz neuer Fußball. Jahrzehntelang treue Dauerbesucher, die erst in der politischen Debatte vom Begriff Doppelpass gehört hatten, sehen seit August plötzlich welche. Dazu Fremdartiges wie gelungene Flanken, gewollte Hackentricks und manchmal richtig durchdachter Spielaufbau. Früher konnten Aachener Spieler nur grätschen; heute grätschen sie, weil sie es können.
Leibhaftige Brasilianer wie Emilio Luciano sind zu sehen oder Taifur Diane aus Guinea, eine Fleisch gewordene Pirouette wider alle Gravitationsgesetze. Selbst Routiniers wie Markus von Ahlen (früher Meppen und Uerdingen) erleben unerwartete Momente: Als nach dem letzten Heimsieg die neue Vereinshymne (ein branchenfremd hochmelancholischer Ohrwurm in traurigem A-Dur) durchs Rund brandete, fiel von Ahlen vor Rührung einfach um und heulte minutenlang Rotz und Wasser: „So viel Erfolg, nach zwei Abstiegen in Folge“, stammelte er, „das war einfach zu viel für mich.“
Vieles fügte sich bislang puzzlehaft: Nach mehreren drohenden Finanzabgründen in den vergangenen Jahren gehört Alemannia Aachen zu den mittlerweile elf glücklichen Vereinen, die durch die Aktien-Millionen des Münchener Rechte-Boomers Michael Kölmel (Kinowelt) am Leben gehalten werden. Und da ist ein Glückstreffer von Trainer: Eugen Hach (39), bis Juli zweiter Mann bei Waldhof Mannheim.
Sein Erfolgsrezept wider jede Regel: Always change a winning team. 21 Feldspieler hat Hach in acht Spielen eingesetzt. Ohne jede Not wie bei Doppelbelastung oder Verletzungen laufen immer andere auf: heute Anfangsformation, morgen Tribüne, übermorgen wieder auf dem Platz. Hach will damit „die Wichtigkeit jedes Einzelnen allen zeigen“. Jeder kriegt seine Chance, keiner kann meckern. Im ersten Spiel stellte Hach mit David Marso einen 19-jährigen Abiturienten und Vertragsamateur in die Anfangsformation, keiner wusste erst, wer das ist. Der Junge spielte prima – und pausiert seitdem.
Eugen Hach betont, die Spieler dürfen alle Fehler machen („Daraus lernt man nur“), aber nie die Zügel schleifen lassen. Dann wird der nette, allürenfreie Mann beim Training plötzlich so laut, dass es auch Außenstehende mithören können. Wahrscheinlich sollen. Und die Gescholtenen schamgebeutelt wieder zur Sache gehen. Dietmar Berchtold, der neue österreichische Spielmacher: „Ich habe noch keinen Trainer erlebt, der so ehrgeizig ist. Und sich gleichzeitig so sehr wie ein kleines Kind über einen Sieg freuen kann.“
In Bochum haben sie (wie in Gladbach auch) auf das bewährte Bundesligapersonal gesetzt. Nur: Das funktioniert in der kampfbetonteren 2. Liga nicht. Middendorp fordert konsequentes Spiel über die Flügel, eigentlich ein probates Mittel, seit Bälle rollen. Nur: Sie machen es zu stereotyp und ohne taktische Absicherung.
In Aachen haben sie sich hauptsächlich mit ehrgeizigen und unbekümmerten Regionalliga-Kickern verstärkt. Und das klappt bislang. Ansonsten hat die Alemannia 99 Erfolg gegen alle Fußballlogik: Zweitbester Angriff der Liga, aber die schwächste Abwehr – ungewöhnlich für einen Tabellenfünften. Auffällige Schwachpunkte sind genau da, wo man sie keinesfalls haben darf: langsame Leute in einer zudem kühn offensiven Viererkette und spielschwache Außenbahnen. Ersatzweise experimentiert Eugen Hach, wie am Sonntag in Mainz, mit vier Stürmern im Team. Fast schon beruhigend, dass auch mal wieder etwas schief ging: 2:4.
Bislang hatten die Aachener das Glück, dass alles im richtigen Moment passierte. Etwa das 0:5 in Bochum, eine tief sitzende Warnung vor Übermut. Und auch der krachende Siegtreffer in letzter Minute ausgerechnet gegen Eugen Hachs Mannheimer ausgerechnet an seinem Geburtstag. Dass sich Schütze Erwin Vanderbroeck beim Torschuss verletzte und seitdem ausfällt, passt ins derzeitige Aachener Bild von Leidenschaft und Tragik.
Am Freitag kommt der 1.FC Nürnberg nach Aachen, wieder werden über 20.000 Menschen hingehen. Einer fehlt indes noch, was einem „praktizierenden Christen“ in einem Leserbrief zum Ärgernis geriet: „Ein guter Hirte gehört zu seinen Schäflein!“, forderte er den Bischof der Domstadt auf, mit schwarzgelber Kutte vor Ort Farbe zu bekennen. Halleluja, Alemannia ist vielleicht bitter nötig: Wenn sie verlieren, ist der Höhenflug erst mal vorbei.
Es ist halt Fußball: Vielleicht gewinnt sogar Bochum am Sonntag gegen Favorit TeBe Berlin. VfL-Präsident Werner Altegoer hat am Sonntag nach einer Krisensitzung gesagt: „Unser Ziel ist der Klassenerhalt.“
Es ist halt diese Fußballlogik: Das müssen sie nur glauben. Dann steigen sie doch noch auf.
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