: Für zwei Stunden den Knast vergessen
Verein für Mitarbeit im Strafvollzug will Insassen die Wege glätten ■ Von Ulrike Winkelmann
Ingeborg Eisermann will „Normalität hinter Gittern“. Die Menschen im Gefängnis, sagt sie, „warten darauf, dass man ihnen irgendetwas, auch Alltägliches, von draußen reinbringt.“ Und dass man ihnen zuhört und „natürlich“ reagiert.
Wäre Ingeborg Eisermann Psychologin, dann wäre das Gespräch eine Therapiesituation, „und die Insassen würden mir andere Dinge erzählen.“ Aber als Ehrenamtliche, die einfach nur zum Reden gekommen ist, „genieße ich Vertrauen.“ Was sie dadurch zu hören bekommt, erzählt die 63-Jährige eher ungern. Privates eben, Probleme mit Gewalt, Sexualität und Drogen.
Um mehr Normalität und Vertrauen in Hamburgs Knästen möglich zu machen, arbeitet Eisermann im „Verein für freie Mitarbeit im Hamburger Strafvollzug e.V.“ mit. 40 Vereinsmitglieder und 90 freie MitarbeiterInnen, zum großen Teil Frauen, begleiten seit drei Jahren Diskussionsrunden und Spielgruppen in Fuhlsbüttel, in Hahnöfersand und im Untersuchungsgefängnis am Holstenglacis.
Anders als unter vier Augen sind in den Gruppengesprächen meistens Knastereignisse das Thema: der Ärger mit den Zellendurchsuchungen oder die Einschränkung von Haftlockerungen. Bei Kaffee und Keksen, berichtet Eisermann, werden aber auch „Politik, Wahlen und Kriege“ besprochen. Der net-teste Satz, den sie in den vergangenen Wochen zu hören bekommen hat: „War doch schön, mal für zwei Stunden den Knast zu vergessen.“ Die größten Erfolgserlebnisse sind, „wenn jemand den Schulabschluss schafft, weil wir ihn auf andere Gedanken gebracht haben“.
Neben Einzel- und Gruppengesprächen übernehmen die Mitglieder bisweilen auch Behördengänge für die Insassen und helfen dabei, die Wege in die Welt außerhalb des Knasts zu glätten. „Oft führt das dazu, dass auch die Familien, die den Kontakt abgebrochen haben, wieder aktiv werden“, erklärt Vereinsgründer Martin Steller.
Der Verein für freie Mitarbeit im Hamburger Strafvollzug – über eine griffige Abkürzung ist man sich noch nicht einig – ist eine der wenigen nicht-religiösen Organisationen, die sich ehrenamtlich und regelmäßig um Gefangene kümmern. Ziel ist unter anderem eine engere Zusammenarbeit mit anderen Gefängnis-Initiativen. Aber es geht nicht nur um Fortbildung und Service, sagt Steller: „Man muss immer auch den Sinn des Strafens in Frage stellen.“
Steller war 32 Jahre lang Knastpfarrer, davon zwanzig in Santa Fu. Im Knast, sagt er, werde zuviel gestraft und zu wenig gesühnt: „Das Schlimmste am Gefängnis ist, dass es die Schuldeinsicht dadurch verhindert, dass die Insassen sich ständig selbst als Opfer fühlen und immer neue Gründe finden, andere zu beschuldigen.“ Würden die Strafffälligen „mit mehr Achtung und Ernsthaftigkeit“ behandelt und „gefordert und beschäftigt“, kämen sie anders aus dem Knast, als sie hereingekommen sind. „Im destruktiven Umfeld des Gefängnisses jedoch vergammeln sie bloß.“
Der Verein sucht MitarbeiterInnen. Nächster „Jour Fixe“: Dienstag, 2. November, 19.30 Uhr im Diakonischen Werk, Königstraße 54. Weitere Infos bei Martin Steller unter Tel.: 790 79 28.
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