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Auf der Kippe

■ Christian Kracht und seine Freunde waren in der Galerie Wiensowski & Habord

Die nette und rührige Frau Wiensowski ist ganz überrascht, dass es gar nicht mehr aufhört zu klingeln an der Tür ihrer Galerie. Für die Lesungen von Jörn-Uwe Albig und Marianne Wellershof und Susanne Weingarten haben die Stühle allemal gereicht.

Doch heute abend lesen Christian Kracht und seine Freunde aus der Anthologie „Mesopotamia“, da reichen nicht mal zwei Räume der geräumigen Vierzimmerwohnung in der Goethestraße. Und so ist es wie bei einem Popkonzert: Vorn sitzt die In-Crowd und im Flur und hinten stehen die vielen anderen, weil es eben keine Stühle gibt oder weil sie es so wollen. Man ergeht sich hier, spricht dort, und trinkt Wasser und Wein. Der Andrang scheint dem Herrn vom Verlag Recht zu geben, der meint, „Mesopotamia“ würde „dem Lebensgefühl einer Generation“ Ausdruck geben.

Doch eine nicht geringe Rolle spielt sicher die Tatsache, dass fünf Autoren nunmal eine Menge Freunde und Kollegen haben, die schnell mal ein Haus wie die Galerie Wiensowski & Habord rocken können. Andererseits hat „junge Literatur“ natürlich Konjunktur, Literatur, die zuweilen auch als „Popliteratur“ missverstanden wird. Vor allem wenn sie wie „Mesopotamia“ einem Popstar wie Momus gewidmet ist und hinten auf dem Band ein Zitat von Jarvis Cocker von Pulp prangt: „Irony is over. Bye. Bye.“ Ironie also gibt es keine mehr, mit ihr ist auch der Spaß vergangen, und mit Pop ist das sowieso ein Sache, wenn eine Reise mitten ins Herz der Ernsthaftigkeit geht und Alexander von Schönburg-Glachau, Rebecca Casati, Eva Munz, Ingo Niermann und Christian Kracht „ernste Geschichten am Ende des Jahrtausends“ erzählen.

Viel Aufhebens macht dann von den fünf auch niemand. Es wird nicht gewitzelt oder performt, sondern schnurstracks gelesen. Die einen tun das recht aufgeräumt, wie Alexander von Schönburg-Glachau. Der sieht aus wie ein Jurastudent mit Burschenschaftsausweis, wirkt aber insgesamt nicht unsympathisch. Und er liest eine Geschichte über Erkenntnisse, die man in einem Konzertsaal macht, wenn der After juckt und zwickt und die Hämorrhidalsalbe nicht zum Einsatz kommen darf. Andere, wie Ingo Niermann oder Rebecca Casati wirken ein wenig eingeschüchtert, von locker mal eine Geschichte vorlesen keine Rede.

Doch im Verlauf des Abends geht es sowieso mehr um das Surrounding und die diskursiven Elemente. Elke Naters, die auch mit einem Stück in dem Band vertreten ist, schwirrt durch die Räume. Sie wurde kurz vor der Lesung noch gebeten, jemand anders den Vortritt zu lassen: was ihr nicht unrecht war. Rainald Goetz ist da, knipst überall herum (er hat eine Fotogeschichte in „Mesopotamia“), und schreibt nach jedem Auftritt etwas in sein Notizbuch (Stärke des Applaus? Länge der Lesung?). Und auch „Frau Ulkig“ aus der beliebten Kindersendung „Teletubbies“ ist gekommen, und wie sie da so konzentriert an einer Wand sitzt, scheint sie wirklich Zeile für Zeile in sich aufzunehmen. Tatsächlich ist es dann zum Ende Christian Kracht, der noch mal alle Aufmerksamkeit auf sich versammelt. Nach einem „Guten Abend, Berlin“, was nur ironisch gemeint sein kann, da er Berlin nach seinem BZ-Intermezzo nicht mehr ausstehen kann, liest Kracht seine traurige und rätselhafte Geschichte so fragil und traurig und rätselhaft, dass man fast ein bisschen Angst um ihn bekommt. Irgendwie scheint er ziemlich auf der Kippe zu stehen und wirklich ein echter Melancholiker zu sein.

Wer Kracht bisher nicht mochte, wird ihn nach diesem Auftritt bestimmt so richtig lieb gewonnen haben . Gerrit Bartels

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